Abgründig (German Edition)
war, erschien er ihm doch ehrlicher und berechenbarer als Janik und Sebastian zusammen.
Lena kam zu ihm und legte Tim eine Hand auf den Oberarm. »Pass bitte auf und bleib in der Nähe der Hütte. Es könnte da draußen gefährlich werden.«
Den Blick, den sie Tim dabei zuwarf, konnte er nicht deuten. Ebenso wenig wie den von Julia, die ein paar Meter entfernt stand und ihn angstvoll anstarrte.
Vielleicht wollte er es auch gar nicht.
20
Augenblicke nachdem sie die Hütte verlassen hatten, waren sie erneut nass bis auf die Knochen.
Denis sah bemitleidenswert aus, als der Wind die dünne, nasse Jacke gegen seinen dürren Körper drückte, und Tim hätte ihm am liebsten vorgeschlagen umzukehren, aber er wusste, dass er sich damit bestenfalls einen dummen Spruch eingefangen hätte. Also ließ er es bleiben.
Sie verständigten sich schreiend darüber, wer sich welchen Abschnitt vornehmen sollte. Sebastian und Janik beschlossen, die Suche nach Ralf auf der Seite der Hütte zu beginnen, an der das Holz gestapelt war. Falls die Blutflecke auf den Scheiten tatsächlich von Ralf stammten, lag die Vermutung nahe, dass er dort zumindest vorbeigekommen war.
Was kaum euer einziger Grund sein dürfte, dachte Tim bitter. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm noch immer nicht hundertprozentig über den Weg trauten. Daher war es logisch, dass sie ihn nicht dort suchen ließen, wo sie Ralf vermuteten – am Ende würde Tim Denis absichtlich in eine falsche Richtung lotsen.
Tim schob diese Gedanken beiseite und machte einen ersten Schritt aus dem geschützteren Bereich vor der Hütte weg. Sogleich schien es, jemand würfe sich mit Schwung von hinten gegen ihn. Er wurde nach vorn gedrückt und konnte gar nicht anders, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, wenn er nicht stürzen wollte. Tim dachte an Denis, der mindestens fünfzehn Kilo leichter war als er selbst, und drehte sich nach ihm um, während er weiter vorwärtsgetrieben wurde. Denis war etwa zwei Meter hinter ihm und hielt sich besser, als Tim befürchtet hatte.
Also konzentrierte er sich wieder auf seine eigenen Füße. Er musste darauf achten, wohin er trat, denn überall lagen Holzstücke, Äste, Wurzeln und Steine herum.
Nach vierzig, fünfzig Metern erreichte er einen kleinen Fels von etwa zwei Meter Höhe, an dem er sich festhalten und auf Denis warten konnte. Es war fast unmöglich, den Kopf zu heben, weil sein Gesicht sofort von Regentropfen und kleinen herumfliegenden Gegenständen malträtiert wurde.
Als Denis ihn erreicht hatte, deutete er nach links. Tims Blick folgte dem ausgestreckten Arm, dann sah er, was Denis meinte. Einige Meter von ihnen entfernt tat sich eine Schlucht auf, an der sie auf dem Hinweg nicht vorbeigekommen waren. Tim nickte Denis zu und drückte sich von dem Fels ab. Nun kam der Wind von der Seite, und sie hatten alle Mühe, die Richtung beizubehalten.
Etwa drei, vier Meter vor der unregelmäßigen Kante der Klamm blieb Tim stehen. Sie durften sich nicht zu nah an den Rand wagen, sonst konnte ein kräftiger Windstoß sie in den Abgrund stürzen.
Als Denis ihn erreicht hatte, suchten sie gemeinsam die Schlucht ab, soweit sie sie einsehen konnten.
Als eine heftige Windböe Denis erfasste und vorwärtsstolpern ließ, bekam Tim ihn gerade noch an der Jacke zu fassen. Er rammte einen Fuß gegen einen Stein auf der Erde und stemmte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen den Sturm. »Ganz schön gefährlich!«, schrie er Denis zu, als er ihn zurückgezogen hatte. Der nickte und klopfte ihm dankbar auf die Schulter.
Tim überlegte, dass man diese Schlucht in der Nacht und bei dem Sturzregen entweder gar nicht oder viel zu spät sehen würde. Wenn man dazu noch betrunken war … Aber sie konnten nichts tun, solange es dermaßen wütete. Es wäre Wahnsinn gewesen, sich bei diesem Wetter näher an den Rand des Abgrundes zu wagen. Die Klamm zu umrunden, kam auch nicht infrage, denn sie erstreckte sich scheinbar endlos zu beiden Seiten. Irgendwo würde es vielleicht eine Brücke geben, aber danach konnten sie bei diesem Unwetter nicht suchen.
Sie verständigten sich darauf, zurückzugehen und noch ein wenig zu beiden Seiten des Weges zu suchen, den sie gekommen waren.
Es waren etwa fünfundzwanzig bis dreißig Minuten vergangen, als sie die Hütte endlich wieder vor sich hatten. Tim fühlte sich wie nach einem Marathonlauf und stellte sich vor, wie unglaublich anstrengend es sein musste, unter diesen Bedingungen einen
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