Abgründig (German Edition)
Er zermarterte sich den Kopf, versuchte, sich dazu zu zwingen, sich zu erinnern, was in der letzten Nacht geschehen war. Manchmal hatte es früher einzelne Bilder gegeben, wenn er nach einem nächtlichen Ausflug am Morgen aufgewacht war. Nicht immer hatten diese Bilder ihm Dinge gezeigt, die er tatsächlich erlebt hatte. Oft waren es auch Fragmente aus Träumen gewesen, bizarr und verstörend. Manchmal aber waren es echte Erinnerungen gewesen – wenn er in kurzen Wachphasen während des Schlafwandelns zumindest Teile seiner Umgebung wahrgenommen hatte. Wenn es ihm doch nur gelänge, sich an Eindrücke der letzten Nacht zu erinnern.
Das Verrückte war, er spürte deutlich, dass da etwas war. Er hatte nicht die ganze Nacht durchgeschlafen, das wusste er genau. Aber bedeutete das, er hatte etwas mit Ralfs Verschwinden zu tun? Er konzentrierte sich auf die Zeit, bevor er eingenickt war. Ihre Diskussionen, der Streit zwischen ihm und Ralf, die Sache mit Lucas, dann Sebastians Handgemenge mit Ralf …
»Hast du verstanden?« Die Gestalt vor Tim nahm Formen an; Sebastians Gesicht schälte sich aus einem grauen Nebel heraus.
»Was?«, fragte Tim und schüttelte den Kopf, um schneller aus seiner Gedankenwelt aufzutauchen.
Sebastian verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich noch breitbeiniger hin. »Drehst du jetzt völlig ab oder was? Also noch mal: Ich habe gesagt, solange wir nicht wissen, was letzte Nacht gelaufen ist, werden wir dich im Auge behalten. Ich hab keine Lust, dass du abhaust.«
»Abhauen?« Tim konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. »Hast du den Verstand verloren? Wo soll ich denn hin bei dem Wetter?«
»Keine Ahnung, aber du denkst dir vielleicht, es ist besser, das Risiko einzugehen, durch den Sturm zu laufen, als später bei den Bullen zu landen.«
»Jetzt fängst du aber langsam wirklich an zu übertreiben«, fuhr Lena Sebastian barsch an. »Das ist ja lächerlich. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Willst du dich hier als Polizist aufspielen? Ausgerechnet du?«
»Einer muss dafür sorgen, dass unser Freund Timmi nicht türmt, bis wir wissen, was mit Ralf los ist.«
»Freak«, kam es trocken aus Denis’ Ecke.
Sebastian fuhr herum. »Halt du dich raus! Der einzige Freak hier bist ja wohl du. Abgesehen von Tim.«
»Sicher«, antwortete Denis und rutschte mit dem Rücken noch tiefer an der Wand hinunter. »O Mann. Und ich dachte immer, ich lebe im Heim unter Idioten.«
»Pass bloß auf, was du sagst, sonst …«
»Sonst?«, unterbrach Tim Sebastian und zog damit seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Sonst gehst du ihm an die Gurgel? So wie Ralf in der letzten Nacht?«
Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Wie lange, konnte Tim nicht einschätzen. Waren es fünf Sekunden, zehn …? Irgendwann zog Lena an Tims Hand und sagte: »Wir wollten uns doch hinsetzen und die letzte Nacht durchgehen. Jeder wollte erzählen, wie er die Nacht verbracht hat. Das sollten wir jetzt tun. Vielleicht sehen wir danach etwas klarer.«
»Wozu denn noch?«, warf Sebastian ein. »Das ist doch jetzt überflüssig. Es ist klar, was passiert ist.«
»Ach?«, sagte Janik hinter ihm. »Mir ist das noch nicht ganz klar. Erzähl mal.«
Tim wunderte sich, dass der Einwand ausgerechnet von Janik kam, und auch Sebastian war sichtlich irritiert.
»Wie jetzt? Zweifelst du etwa noch daran, dass der Kerl hier was mit den Blutflecken und Ralfs Verschwinden zu tun hat?«
»Ich wundere mich vor allem darüber, wie du dich hier aufspielst«, entgegnete Janik. »Dein Interesse daran, Tim auf die Schnelle die Schuld an allem zu geben, ist schon ziemlich auffällig. Setzen wir uns. Und ich schlage vor, du fängst damit an, von deiner Nacht zu erzählen.«
»Warum hackst du jetzt auf Sebastian rum?«, mischte sich nun auch Julia ein. »Um ihn geht es nicht.« Wieder sah sie Tim mit diesem seltsamen Blick an, und als er ihm standhielt, schlug sie die Augen nieder und drückte sich näher an Sebastian.
»Von mir aus«, zischte der abfällig und setzte sich an der gleichen Stelle im Schneidersitz auf den Boden, an der er auch am Abend zuvor schon gesessen hatte. Julia zog er einfach mit sich, sodass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als sich ebenfalls zu setzen. »Aber ich weiß nicht, wie viele Beweise ihr noch braucht, bis ihr endlich kapiert, was offensichtlich ist.«
Als sie nebeneinandersaßen und Lena die Decke über seine und ihre Schultern legte, fiel Tim erst wieder auf,
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