Abgründig (German Edition)
nichts mehr davon wüsstest, wenn du es heute Nacht wieder getan hättest.
Tim griff sich mit beiden Händen an den Kopf und drückte die Handballen fest gegen die Schläfen. Er hatte das Gefühl, bald durchzudrehen. Wie war er nur in diese Situation gekommen? Alle schienen gegen ihn zu sein. Es war, als sei eine durchsichtige Wand durch die Hütte gezogen worden. Auf der einen Seite stand die Gruppe, auf der anderen Seite er, ausgestoßen, nicht mehr dazugehörig.
Mit lautem Donnern schlug etwas gegen die Hüttenwand. Nur wenige zuckten dabei noch zusammen. Sie hatten sich in den letzten Stunden an diese Geräusche gewöhnt.
»Das ergibt doch alles keinen Sinn«, meinte Tim und sah Sebastian an, der offenbar bereitwillig die Rolle des Anklägers übernommen hatte. Tim spürte, dass sich seine Gedanken langsam ordneten. Er registrierte erleichtert, dass es ihm zumindest wieder gelang, logische Verknüpfungen herzustellen. »Warum sollte ich Ralf verletzen? Und selbst wenn ich ihn hier drinnen irgendwie verletzt hätte – was denkt ihr, wäre dann geschehen? Ich habe doch keine Chance gegen Ralf. Ich hätte ihn schon im Schlaf niederschlagen müssen. Und dann? Habe ich ihn dann aus der Hütte geschleppt? Diesen schweren Kerl? Ohne dass es jemand von euch mitbekommen hat? Wie sollte das denn gehen?«
»Wir waren alle betrunken«, sagte Janik. »Ich hätte davon bestimmt nichts gemerkt.«
Tim traute seinen Ohren nicht. »Aber … ich war doch genauso betrunken wie ihr.«
»Ich sehe, dass Ralf verschwunden ist«, erklärte Sebastian. »An seinem Platz ist alles voller Blut. Außerdem haben wir hier jemanden, der sich gestern Abend mit ihm gestritten hat und heute Morgen Blut im Gesicht und an den Händen hatte. Ziemlich klare Kiste, oder?«
Zuerst wollte Tim erneut aufbrausen und allen klarmachen, dass Sebastian viel eher infrage käme, Ralf etwas angetan zu haben. Aber wie oft sollte er ihnen das noch vorbeten? Jeder wusste es. Und doch starrten sie ihn an, als wollten sie ihn gleich hier und jetzt auf einen Scheiterhaufen stellen.
»Vielleicht kommen aber auch noch andere infrage«, sagte Jenny unvermittelt. Tims Herzschlag beschleunigte sich sofort. Sagte sie jetzt endlich, was sie wusste? Alle sahen sich nach ihr um.
»Jeder könnte Ralf heute Nacht verletzt haben. Im Streit.« Ihr Blick wanderte erst zu Lucas, dann zu Fabian.
»Natürlich kommt jeder infrage«, sagte Lena, die noch immer neben Tim stand. »Ich bin sicher, dass Tim nichts damit zu tun hat, aber meinst du jemand Bestimmtes?«
Jenny betrachtete den Boden. Sie schien zu überlegen, was sie preisgeben konnte. Schließlich hob sie den Kopf und sagte: »Ich bin letzte Nacht wach geworden und habe mitbekommen, dass Lucas und Ralf sich gestritten haben.«
»Was?«, stieß Tim aus. »Und das sagst du erst jetzt?«
»Ich halte nichts von unbedachten Schuldzuweisungen, aber da sich hier offenbar alle auf dich eingeschossen haben, denke ich, es war Zeit, es zu erwähnen.«
»Nicht alle haben sich auf Tim eingeschossen«, betonte Lena neben Tim und tastete wieder nach ihm. Dieses Mal griff er zu und hielt ihre Hand fest.
Alle Augen richteten sich auf Lucas, der sich offensichtlich äußerst unbehaglich fühlte und an seiner Decke herumnestelte.
»Das stimmt doch gar nicht«, sagte er kindlich trotzig. »Ich habe mich mit Ralf unterhalten und nicht gestritten. Im Gegenteil, wir haben uns ausgesprochen und wieder vertragen. Das mit dem Streiten musst du geträumt haben.«
Jenny sah zu Fabian, wartete einige Sekunden und sagte dann: »Fabian?«
Fabian wiegte den Kopf hin und her, sagte aber nichts. Er sah furchtbar aus. Seine Augen waren glasig, seine Stirn glänzte.
Tim fragte sich, wie man bei dieser Kälte schwitzen konnte, wurde aber von Jenny abgelenkt, die in deutlich schärferem Ton sagte: »Ich habe auch gesehen, dass du wach warst und die Szene ebenfalls beobachtet hast.«
»Ja, habe ich«, gab der Vierzehnjährige endlich zu.
Tim war fassungslos. »Ich glaub’s nicht. Du auch? Und du hast auch nichts gesagt? Was ist denn mit euch los? Wolltet ihr, dass man mich verdächtigt, oder was?«
Fabian hob die Schulter. »Jenny hat es schon gesagt.« Er hustete und räusperte sich. »Hätten wir davon erzählt, wären alle sofort auf Lucas losgegangen, obwohl wir nur gesehen haben, dass die beiden sich stritten.«
»Ach, und da war es euch lieber, dass alle auf mich losgehen? Ich kann das einfach nicht glauben. Man verdächtigt mich, Ralf
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