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Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Schone
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hinauf.
    Wunden verheilten; Erinnerungen nicht. Aber vielleicht nahm man den Gouvernanten ja selbst die Erinnerungen …
    »Töten Sie die Frauen für Delaney und Mary Thornton?«
    »Nein, nein!« Der Butler verdrehte die vortretenden Augen. »Mr. Delaney gibt ihnen Geld, damit sie auf dem Land leben können. Ich setze sie in den Zug. Ich schwöre es. Ich kann Ihnen sagen, wohin sie Fahrkarten gekauft haben …«
    Keanons Kopf prallte gegen die Wand; ein halbes Dutzend silberneBilderrahmen mit Glas fielen klirrend zu Boden. Gabriel starrte auf die Fotografie eines Mannes, der unter einem Baum stand; er hatte einen Arm um eine Frau gelegt. Er stand im Schatten, sie im Licht. Sein Gesicht war unscharf; sein Haar wirkte im Schatten schwarz. Die Züge der Frau waren scharf; ihr Haar war unter einem Strohhut verborgen. War der Mann auf der Fotografie Mitchell Delaney? Hatte Delaney schwarzes Haar? War Delaney der zweite Mann?
    Gabriel drehte sich um und schaute nach oben. Delaneys Schwester stand auf der achten Stufe. Sie war die Frau auf der Fotografie, der Inbegriff englischer Mutterschaft. Anfang dreißig, das hellbraune Haar zu einem lockeren Knoten aufgesteckt. Ihre weiße Bluse und der dunkelgrüne Wollrock waren geschickt geschnitten, betonten ihre Schultern, eine künstlich schmale Taille und brachten ihre vollen Hüften zur Geltung. Ihre entsetzte Miene hatte nichts Gekünsteltes. Mrs. Collins hatte gerade erfahren, dass jede Familie ein dunkles Geheimnis besaß. Die Leiche in ihrem Keller war ihr Bruder.
    Gabriel kehrte ihr den Rücken und verließ Delaneys Haus.
    Er dachte an Victoria, an ihre glatte Zunge, als sie den Geschmack seines Samens mit ihm geteilt hatte. Er dachte an die Briefe, die Delaney geschrieben hatte, verführerische Verheißungen auf Lust und Schutz.
    Die Handschrift war nicht dieselbe wie auf der Serviette. Aber vielleicht hatte der zweite Mann die Nachricht auf der Serviette nicht selbst geschrieben.
    Gerald Fitzjohn hatte neben ihm am Tisch gesessen.
    Gerald Fitzjohn könnte die Nachricht auf die Seidenserviette geschrieben haben.
    Es spielte keine Rolle.
    Delaney. Der zweite Mann.
    Ein Mann war im Begriff, die Gouvernante zu holen.
    Ein Mann war im Begriff, Victoria zu holen. Heute Abend .
    Zwei Lampen schienen durch den Nebel. Mit einem scharfen Ruf hielt Gabriel die vorüberfahrende Mietdroschke an. Die Fahrt durch die nebelverhangenen Straßen war endlos. Er sagte,er wolle die Gouvernante holen , sangen die Kutschräder. Gabriel sprang aus der Kutsche, kaum dass sie hielt.
    »He!«, schrie der Kutscher. »Sie schulden mir zwei Schilling!«
    Gabriel blieb nicht stehen, um den Kutscher zu bezahlen.
    Acht entfernte Schläge drangen dumpf durch die Nebeldecke. Big Ben schlug die Stunde. In einer Stunde öffnete das Haus Gabriel seine Pforten.
    Rasch schloss Gabriel die Haustür auf. Er folgte der Duftspur von Bienenwachspolitur, Lammbraten und Gefahr. Der Kristalllüster über der Gästetreppe malte scherenschnittartige Schatten in die dunkle Höhle des Saales. Weiße Seidentischtücher leuchteten wie schlafende Gespenster. Eine einzelne Kerze beleuchtete einen schwarzhaarigen Mann, der an einem der hinteren Tische saß. Ein schwarzer Wollmantel rahmte einen Stuhl; ein schwarzer Seidenfrack rahmte die weiße Weste des Mannes. Er hob einen Kognakschwenker, lange, narbige Finger umschlossen das angewärmte Kristall, menschliches Fleisch und Glas vom Feuer geprägt.
    Gabriel spürte all die alten Gefühle wieder hochkommen, die Victoria vorübergehend eingedämmt hatte.
    Liebe. Hass.
    Der Wunsch, ein Engel zu sein. Das Bedürfnis, einen Engel zu beschützen.
    Das Wissen, dass er nie ein Engel sein konnte, er, der Bettler.
    Mit den Gefühlen kamen die Erinnerungen an Hunger, der den Magen aushöhlte, an Kälte, die die Haut fühllos machte. Armut, die gesellschaftliche Schranken untergrub. Lust, die niemals brannte.
    Sinnlichkeit hatte Michaels Rettung bedeutet; ein Junge mit violettblauen Augen und schwarzem Haar hatte Gabriels Erlösung bedeutet.
    Schweigend ging Gabriel über den dicken Wollteppich, dessen rote Farbe in der flackernden Dunkelheit schwarz wirkte.
    Das Kichern einer Frau wehte die Küchentreppe herauf, ein Dienstmädchen, das mit einem Kellner flirtete.
    Michael saß allein, wie er auf dem Dock in Calais allein gesessen hatte.
    Bedauern über die siebenundzwanzig Jahre, die zwischen den beiden dreizehnjährigen Jungen und den beiden vierzigjährigen Männern klafften,

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