Abgrund der Lust
hin …«
»Mein Bruder ist Junggeselle.« Entrüstung brachte Schärfe in Mrs. Collins Ton. »Es geht uns nichts an, welche Frauen er in sein Haus bringt.«
Victoria war achtzehn Jahre Frauen wie Mrs. Collins auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen, Frauen, die sich hinter ihrer Tugendhaftigkeit versteckten, um mit ihrem Leben und ihren Männern auszukommen. Nie wieder.
»Ihr Bruder hat meine Frau terrorisiert, Madame«, sagte Gabriel leise. »Es geht mich durchaus etwas an.«
Die Augen des Butlers weiteten sich vor Schreck. Die Frauen, die er und sein Herr jagten, sollten für gewöhnlich keinen Mann haben, der sie beschützte. Für sie sorgte.
Sie liebte.
Das Hufgeklapper eines einzelnen Pferdes übertönte das Keuchen des Butlers. Delaneys Schwester brauchte lediglich zu schreien …
»Wenn mein Bruder sich ruchloser Taten schuldig gemacht hat, hätten diese Frauen die Polizei benachrichtigen sollen.«
Mrs. Collins verschanzte sich weiter hinter ihrem Wohlstand und ihrer Tugendhaftigkeit. Die Gouvernanten waren arm; Delaney war reich. Kein Schutzmann hätte ihn festgenommen.
»Lieben Sie Ihren Bruder, Mrs. Collins?«, fragte Gabriel unverbindlich.
Das einzelne Pferd war auf Höhe des Hauses; das schwache Malmen von Kutschrädern sang durch den Abendnebel.
»Selbstverständlich liebe ich meinen Bruder!«, rief Mrs. Collins aus. »Es ist die Pflicht einer tugendhaften Frau, ihre Familie zu lieben.«
Gabriel fragte sich, wie Victoria mit sechzehn Jahren den Mut aufgebracht hatte, ihren Vater zu verlassen.
Nebel und Entfernung schluckten das Malmen der Kutsche; das Hufgeklapper verblasste zu einem ersterbenden Echo.
»Dann wollen Sie sicher nicht, dass Ihr Bruder getötet wird«, sagte Gabriel ausdruckslos.
»Selbstverständlich nicht«, sagte Delaneys Schwester mit entrüstetem Schnauben. Ungeachtet der Kutsche, die ihre Rettung hätte sein können.
»Aber er wird getötet werden …«
Gabriel log. Vielleicht war es aber auch keine Lüge.
Er wusste nicht, ob Delaney mit dem zweiten Mann zusammenarbeitete. Gabriel würde es erst erfahren, wenn er Delaney fand. Gleichwie war er ein toter Mann.
»Mein Bruder hat mir nicht … er hat mir nicht gesagt, wo er hingeht.«
Mrs. Collins sagte die Wahrheit. Wissen leuchtete in den Augen des Butlers auf. Blassgrüne Ringe säumten seine geweiteten Pupillen.
»Sie wissen, wo er ist, Keanon«, sagte Gabriel seidenweich.
Die beiden blassgrünen Ringe verschwanden; die Augen des Butlers verwandelten sich in schwarze Löcher der Angst.
»Ich weiß es nicht«, keuchte er.
War Delaney ein Mörder, überlegte Gabriel. Vor wem hatte Keanon mehr Angst, vor Gabriel oder vor Delaney?
»Sie wissen es, Keanon«, schmeichelte Gabriel. »Wenn Sie es nicht wissen, gibt es wahrhaftig keinen Grund, weshalb ich Sie nicht töten sollte, oder?«
»Ich weiß es nicht!« Ein schriller Ton trat in die Stimme des Butlers. Nur eine dünne Knorpelschicht trennte Gabriels Degenspitze von der Luftröhre des Butlers.
»Holen Sie tief Luft, Keanon«, sagte Gabriel sanft. »Es wird Ihr letzter Atemzug sein.«
Der letzte Rest an Loyalität verflüchtigte sich in einer Woge des Entsetzens.
»Er sagte, er wollte die Gouvernante holen!«, brabbelte der Butler. »Mehr weiß ich nicht! Ich schwöre, mehr weiß ich nicht!«
Eiskalt schoss es durch Gabriels Adern. Victoria war in Gabriels Haus. Aber wusste Delaney das? Oder hatte er vor, sie aus dem billigen Zimmer zu holen, in dem sie gewohnt hatte?
»Woher weiß er, wo sie ist?«, knirschte Gabriel.
»Das weiß ich nicht! Ich weiß es nicht! Ich schwöre bei Gott, ich weiß es nicht!«
So viele Leute, die nichts wussten.
»Sind jetzt Frauen oben auf dem Speicher, Keanon?«
»Nein! Nein! Jetzt nicht.«
Aber der Speicher war für eine Frau vorbereitet. Er war für Victoria vorbereitet.
»Schauen Sie zu, wenn er die Frauen vergewaltigt?«, fragte Gabriel leise. Die Zeit tickte dahin, mehr als ein Puls raste.
»Mrs. Thornton – sie schaut zu.«
Es gab Frauen und Männer, die aus der Unterwerfung anderer Lust schöpften. Gabriel konnte sich ohne Weiteres vorstellen, dass Mrs. Thornton zu diesen Frauen gehörte.
»Gibt Delaney Ihnen die Frauen, wenn sie mit ihnen fertig sind?«, fragte er.
»Nein …« Keanon besann sich eines Besseren. »Ja. Aber ich tue ihnen nicht weh. Ich schwöre Ihnen, ich tue ihnen nicht weh.«
Schweiß triefte über das pockennarbige Gesicht des Butlers; Gabriel kroch es eiskalt den Rücken
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