Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Schone
Vom Netzwerk:
»Und er hatte Recht. Meine Mutter verließ ihn, als ich elf war. Wegen eines anderen Mannes. Ich bin wie meine Mutter. Ich bin eine Hure.«
    Gefühle töteten. Warum konnte er die Gefühle dieser Frau nicht eindämmen?
    Gabriel bot Victoria den einzigen Trost an, den er geben konnte. »Sie sind keine Hure, Mademoiselle.«
    »Wenn ich keine Hure wäre, warum …« Victoria schluckte, um wenigstens das letzte ihrer Geheimnisse nicht preiszugeben, den Namen ihres Dienstherren – »warum musste er mich dann aus meiner Stellung entlassen? Warum hat er mir diese Briefe geschrieben? Warum habe ich sie gelesen? Immer und immer wieder habe ich sie gelesen. Warum?«
    Der zweite Mann rief Gabriel. Er war da draußen und wartete, dass Gabriel ihn fand. Zum ersten Mal hatte er eine Spur hinterlassen, die er verfolgen konnte. Gabriel konnte Victoria nicht allein lassen. Nicht so.
    »Wir haben alle Bedürfnisse, Victoria.«
    Die Worte kamen tief aus Gabriels Brust. Victoria blieb reglos in Seide gehüllt stehen.
    »Als ich ein Junge war, wollte ich ein Bett zum Schlafen.« Die Madame hatte es ihm gegeben.
    »Als ich Hure wurde, wollte ich erfolgreich sein.« Damit er nie wieder hungern müsste. Die Madame hatte es ihm ermöglicht.
    »Als ich ein Mann wurde, wollte ich die Leidenschaft einer Frau erleben. Nur ein einziges Mal wollte ich die Lust spüren, die ich gab.«
    Die Zeit verrann. Gabriel erinnerte sich an das seidige nasse Fleisch, das um Erlösung weinte. Er erinnerte sich an den Geschmack einer Frau; erinnerte sich an den Duft einer Frau.
    Seide raschelte; sofort vertrieb es die Erinnerung an andere Frauen. Die Erinnerung an seine Begierde vertrieb es nicht.
    Nach all diesen Jahren war sie immer noch nicht gestorben.
    Gabriel konzentrierte sich auf Victorias Augen, Victorias Körper. Victorias Duft, der den Raum erfüllte, jetzt überlagert vom Gestank brennender Wolle, aber dennoch.
    »Haben Sie sie gespürt?«
    »Nein.«
    Die Wahrheit.
    Gabriel hatte sich nie in der Lust einer Frau verloren.
    Die Wahrheit sollte ihm nicht mehr wehtun; warum tat sie es dennoch?
    »Sie haben Madame René gefragt, wie man einen Mann verführt«, sagte Gabriel abwesend. »Ich sage es Ihnen. Wenn er Hunger hat, geben Sie ihm zu essen. Wenn er Schmerzen hat, geben Sie ihm Hoffnung. Wenn er keine Bleibe hat, geben Sie ihm ein Bett zum Schlafen. Um zu verführen, muss man die Illusion von Vertrauen schaffen können.
    Der Mann, der die Briefe geschrieben hat, hat Sie von sich abhängig gemacht: Sie hatten Hunger; er sagte Ihnen, er würde Ihnen Essen geben. Sie hatten Angst; er sagte Ihnen, er würde Sie trösten. Und als Sie keine Bleibe mehr hatten, sagte er, er würde das Bett mit Ihnen teilen.
    Sie sind keine Hure. Wenn man nichts mehr zu verlieren hat, aber alles zu gewinnen, ist es sehr leicht, der Geschlechtlichkeit zu erliegen, Victoria.«
    Der stechende Geruch der brennenden Wolle trieb Victoria Tränen in die Augen. Er hätte das Kleid nicht verbrennen sollen. Er hätte nicht versuchen sollen, Victoria zu trösten; es gab keinen Trost bei einem Mann, der getötet hatte und wieder töten würde.
    Gabriel kehrte Victoria den Rücken – schon zum zweiten Mal an diesem Tag – und ging ins Bad. Leise schloss er die Tür hinter sich. Eine zerschlissene Unterhose und schlaffe Strümpfe hingen ordentlich über einer Handtuchstange. Victorias schmerzerfüllter Aufschrei hallte in ihm nach: Ich bin genauso sauber wie Sie .
    Das Marmorwaschbecken hatte Wasserflecken. Gabriel starrte in den Spiegel darüber. Mattes Grau spähte durch eine beschlagene Stelle. Für einen flüchtigen Augenblick starrte Gabriel in Augen voller Hoffnung. Sie schwand wie die Illusion, der sie entsprang.

    Victoria starrte auf die geschlossene Tür, unfähig zu atmen. Das unwirkliche Gefühl, das sein Geständnis hervorgerufen hatte, schwand. Und sie konnte wieder atmen.
    Auf der schwarzen Marmorplatte des Schreibtischs schimmerteein Silbertablett. Der Duft von Eiern mit Schinken und Kaffee lag in der Luft. Victorias Magen knurrte.
    Wenn er Hunger hat, geben Sie ihm zu essen. Wenn er Schmerzen hat, geben Sie ihm Hoffnung. Wenn er keine Bleibe hat, geben Sie ihm ein Bett zum Schlafen , hallte es in ihren Ohren nach.
    Gabriel hatte ihr zu essen gegeben und er hatte auf sein Bett verzichtet, damit sie darin schlafen konnte.
    Er hatte ihr keine Hoffnung gegeben, aber er hatte sie zu trösten versucht.
    Verführung.
    Die Illusion von Vertrauen.
    Auf dem Tablett stand

Weitere Kostenlose Bücher