Abgrund der Lust
schon Tausende Male getan. Er nahm den grauen Wollgehrock mit Nadelstreifen vom Sofa und schaute Victoria an. »Ich habe es niedergebrannt.«
Victoria atmete tief durch; der Seidenknoten vor ihrer Brust löste sich.
Gabriels silbergraue Augen forderten sie heraus, die Frage zu stellen, die ihr durch den Kopf schoss: Warum?
»Ihre Bücher … Sie haben sowohl die englische als auch die französische Ausgabe«, sagte sie stattdessen. »Welche lesen Sie lieber?«
»Ich habe in Englisch lesen gelernt.« Er log nicht. »Ich hoffe, eines Tages ebenso gut Französisch zu lesen.«
Ihre Finger umklammerten weiches Leder. »Wer hat Ihnen beigebracht, Englisch zu lesen?«
»Michael.«
»Michael ist Engländer.«
»Ja.«
Die Frage rutschte ihr heraus. »Mein Vater hat Ihr Haus nie besucht, nicht wahr?«
Der Schrecken, der Victoria durch die Glieder gefahren war, als sie am Abend zuvor angesehene Männer und Frauen hier gesehen hatte – Männer und Frauen, die mit ihrem Vater bekannt waren –, war ihr immer noch gegenwärtig.
»Nein, Ihr Vater hat mein Haus nie besucht.«
Victoria glaubte Gabriel.
»Mein Vater würde mir nichts tun«, erklärte sie bestimmt.
Wen wollte sie überzeugen? Sich selbst? Oder Gabriel?
»Nicht einmal, um seinen Ruf zu wahren?«, fragte Gabriel sanft.
»Ich glaube, er würde sich durch die Tatsache bestätigt fühlen, dass ich hier bin«, sagte sie nüchtern.
Ausnahmsweise tat die Wahrheit nicht weh. Sie hatte den Preis gekannt, als sie seinen Schutz mit sechzehn Jahren verließ. Sie würde niemals zurückgehen, selbst wenn er sie wieder aufnehmen würde.
»Und was ist mit Ihrem Bruder?«
Gabriels Frage raubte Victoria den Atem. Ihre Finger gruben sich in das Leder, ohne auf den Schaden zu achten, den sie damit anrichten könnte. »Woher wissen Sie, dass ich einen Bruder habe?«
Dumme, dumme Frage. Das Adelsregister …
»Ich weiß, dass er dreißig Jahre alt ist.« Der Zorn in seinen Augen war unverkennbar. »Ich weiß, dass er ein Mann ist, der durchaus imstande wäre, für eine Schwester zu sorgen, Mademoiselle. Aber er hat es nicht getan.«
Victoria hob das Kinn. Er hatte kein Recht sie zu verurteilen … »Mein Bruder weiß nichts von meiner Lage.«
»Warum nicht?«
»Er ist weggelaufen, als er zwölf war.«
»Und ihm lag nicht genug an Ihnen, um je zurückzukommen und zu sehen, wie es seiner Schwester ging?«
Victoria war verblüfft über den Zorn in Gabriels Stimme. Ihrem Bruder hatte an ihr gelegen … zu sehr sogar.
»Mein Bruder ist meinetwegen fortgelaufen.« Die Erinnerung umwölkte ihren Blick. »Ich mache ihm keinen Vorwurf.« Aber ihrem Vater machte Victoria Vorwürfe. Ihrem Vater würde sie immer Vorwürfe machen.
»Warum ist er weggelaufen, Mademoiselle Childers?«
Abscheu krampfte Victorias Magen zusammen.
»Mein Vater hat Daniel bestraft«, erklärte sie zögernd. Dass ihr Vater Daniel oft bestraft hatte, brauchte sie nicht zu sagen.
Gabriel wäre angewidert, warnte die alte Victoria.
Gabriel verdiente es, die Wahrheit zu erfahren, vertrat die neue Victoria.
Gabriel wartete schweigend. Es war ihre Entscheidung …
Victoria blickte zurück …
»Ich hörte Daniel später an diesem Abend weinen und ging in sein Schlafzimmer; ich legte mich zu ihm ins Bett und nahm ihn in den Arm. Um ihn zu trösten«, sagte sie abwehrend. Es war ihr grässlich, dass sie nach all den Jahren immer noch das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. »Er schlief in meinen Armen ein. Ich schlief ein, ihn im Arm. Mein Vater weckte uns.«
Victoria konnte den Schmerz und die Wut nicht zurückhalten.
»Er beschuldigte uns … in Sünde zusammenzuliegen.« Sie schluckte hörbar. »Mein Vater begreift nicht, dass man lieben – und sich berühren – kann ohne fleischliche Begierde.«
»Also wurden Sie Gouvernante«, sagte Gabriel.
»Ja.«
»Und Sie liebten die Kinder anderer Frauen …«
Victoria verzog die Lippen zu einem trockenen Grinsen. »Nicht alle Kinder sind liebenswert …«
»… weil Sie bei Männern kein Zutrauen in sich selbst hatten.«
Victoria konnte nicht länger vor der Wahrheit davonlaufen.
»Ja.«
Zwei leise Glockenschläge durchschnitten die Spannung; Big Ben schlug die Stunde.
»Begierde ist natürlich, Mademoiselle.« Silberne Lichter tanztenin seinen Augen. »Der Mann, der Ihre Begierde gegen Sie verwendet hat, ist im Unrecht, nicht Sie.«
Victoria stellte sich einen Jungen vor, der ein Bett zum Schlafen wollte … einen
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