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Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Schone
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nur eine Tasse. Victoria wollte nicht allein essen. Sie schenkte eine Tasse Kaffee ein und sog das köstliche Aroma ein. Er schmeckte wie reinster Nektar.
    Graues Licht erfüllte die Bibliothek. Goldlettern glitzerten einladend. Victoria kannte sich mit Büchern aus; Bücher waren ihr Leben, so lange sie denken konnte. Wie man einen Engel tröstete, wusste sie jedoch nicht.
    Müßig überflog sie die Reihen ledergebundener Bücher. Lauschte angespannt … auf ein Wispern in der Luft. Einen Schritt.
    Gabriel.
    Große geprägte Lettern fielen Victoria ins Auge: der Name eines Mannes, Jules Verne. Reise zum Mittelpunkt der Erde; Voyage au centre de la terre; Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren; Vingt mille lieues sous les mers; Die geheimnisvolle Insel; L'Ile mystérieuse; In achtzig Tagen um die Welt; Le Tour du monde en quatre-vingts jours … Gabriel besaß viele Werke von Jules Verne, in Englisch und Französisch. Aufmerksamer betrachtete sie andere Bücher von Victor Hugo, George Sand … Shakespeare … Jeder Titel war auf Französisch und Englisch vorhanden.
    Victoria vergaß ihren Kaffe, nahm L'Ile mystérieuse , die französische Ausgabe von Die geheimnisvolle Insel , und trat ans Fenster. Die englische Fassung war wesentlich leichter.
    Welche Sprache las Gabriel lieber, fragte sie sich … Englisch oder Französisch?
    Blendendes Licht flammte über ihr auf. Victoria blinzelte.
    Sie brauchte Gabriel nicht erst zu sehen, um zu wissen, dass er den Kronleuchter eingeschaltet hatte. Jeder Knochen ihres Körpers schrie ihr Bewusstsein heraus.
    Er stand neben dem blauen Ledersofa, eingerahmt von dem strahlenden Sonnenuntergang und dem schimmernd blauen Meer auf dem Gemälde hinter ihm. Sein Gesicht war rosig; er hatte sich rasiert. Ein schwarzer Derby-Wollmantel und ein graues Wolljackett mit Nadelstreifen hingen über seinem rechten Arm. Um einen gestärkten weißen Kragen trug er ein rote Seidenkrawatte. Die graue Nadelstreifenweste und die passende Hose saßen perfekt. In seiner linken Hand wog er einen silbernen Gehstock, in der rechten einen schwarzen Bowler.
    Von dem Mann mit Bartstoppeln, der mit ihr über seine Bedürfnisse gesprochen hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. An seiner Stelle stand ein eleganter, frisch rasierter Herr.
    Vor vierundzwanzig Stunden hätte sie ihn noch für einen verwöhnten Gentleman gehalten. Diesen Fehler machte Victoria nun nicht mehr.
    Gabriel war elegant. Gabriel war schön.
    Gabriel war gefährlich.
    »Stellen Sie sich nicht ans Fenster«, befahl er kurz angebunden. »Und halten Sie die Blenden geschlossen.«
    Victoria rührte sich nicht vom Fenster fort. »Es kann mich niemand sehen.«
    »Den Mann, der eine Waffe auf Sie richtet, werden Sie nicht sehen, Mademoiselle«, sagte Gabriel seidig. »Vielleicht sehen Sie einen Lichtblitz, wenn er abdrückt, vielleicht aber auch nicht. Eines steht fest: Den Schuss hören Sie nicht, dann sind Sie bereits tot.«
    Die Gefahr, von einem Mann erschossen zu werden, den sie nie gesehen hatte, war unwirklich; der Mann vor ihr nicht.
    »Sie gehen aus«, stellte Victoria fest. »Wer wird verhindern, dass jemand Sie erschießt?«
    Gabriel legte Mantel, Rock, Stock und Hut auf das Ledersofa, das ihm erst vor wenigen Stunden als Bett gedient hatte. Er beugte sich herunter und holte ein Lederholster hervor. Dann hob erein Kissen an und zog darunter einen Revolver hervor. »Er wird mich nicht erschießen.«
    Die Trommel des Revolvers war matt blauschwarz.
    Der Geruch von Eiern und Speck würgte sie.
    Victoria erkannte den Revolver: Es war derselbe, den er am Abend zuvor unter der weißen Serviette versteckt gehalten hatte. Es war die Waffe, die er bereit gehalten hatte, um sie zu erschießen.
    Victoria trat mit zittrigen Beinen vom Fenster weg.
    Bitter stieg ihr der Kaffee in die Kehle. »Sie gehen ihn suchen.«
    Und töten.
    Die unausgesprochenen Worte standen zwischen ihnen.
    »Ja.« Gabriel schob sich das Holster über den rechten Arm und schnallte den Gurt um seine Rippen.
    »Die …« Tränen brannten in Victorias Augen; sie wollte keine Angst haben, nicht um sich, nicht um Gabriel. »Die Prostituierte sagte, es gab vor der Eröffnung dieses Hauses schon einmal ein Haus Gabriel. Sie sagte, es sei abgebrannt. Hat der Mann, den Sie suchen, es niedergebrannt?«
    »Nein.« Gabriel rückte den Lederriemen auf seiner Schulter zurecht, bevor er den Revolver in das Holster steckte; seine Bewegungen waren sicher, geübt, als habe er das

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