Abgrund der Lust
fiedrig über ihre Lippen. »Aber Sie wollen mir seinen Namen nicht nennen. Warum?«
»Ich kenne seinen Namen nicht«, wiederholte Victoria hartnäckig. Die Verzweiflung in ihrer Stimme ließ sich nicht verhehlen.
»Sie sagten, es sei Thornton.«
»Ja«, spie sie aus.
»Warum haben Sie mir seinen Namen nicht gesagt?«
Sie leckte sich die Lippen, schmeckte Zimt, schmeckte Gabriels Atem. »Weil ich Angst hatte.«
Sie hatte immer noch Angst.
»Wovor, Mademoiselle?«
Seine Stimme und sein Atem waren eine Liebkosung. Die Kälte in seinen Augen ließ ihre Wimpern gefrieren.
»Ich hatte Angst, dass Sie ihn finden könnten«, sagte Victoria.
»Ich habe ihn gefunden.«
»Ich hatte Angst, dass Sie mit ihm sprechen könnten.«
»Ich habe mit ihm gesprochen.«
Schwarze Flecken tanzten vor Victorias Augen. »Ich hatte Angst, er würde Ihnen sagen, wer ich bin.«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Sie wissen nicht, wer ich bin!«, sagte sie bissig.
Er zuckte nicht mit der Wimper über ihren Ausbruch – einen Ausbruch, der erneut bewies, dass Victoria nicht die Frau war, für die sie sich gehalten hatte.
Ruhig. Vernünftig. Über die Begierden des Fleisches erhaben.
Dunkles Wissen funkelte in Gabriels Augen. »Ich kenne dich, Victoria.«
Er hatte ihren Körper nackt gesehen, sagten seine Augen. Gabriel kannte die Größe ihrer Brüste, ihre schmalen Hüften, die Rundung ihrer Pobacken. Aber er kannte sie nicht.
»Was wissen Sie schon von mir?«
»Ich weiß, dass Sie das Gefühl von Seide auf Ihrer Haut mögen.« Sein Blick huschte über ihre nackten Schultern, spielte mit dem Seidenknoten zwischen ihren Brüsten. »Ich weiß, dass Sie mutig sind. Ich weiß, dass Sie treu sind.«
Seine Wimpern hoben sich, sein silberner Blick hielt ihren fest. »Ich weiß, dass Sie mich umbringen werden …«
Victoria blieb der Atem in der Kehle stecken – vielleicht war es auch sein Atem, der ihre Kehle zuschnürte. »Ich würde Ihnen nie wehtun.«
»Auch das weiß ich.«
»Woher wissen Sie das?«
»Wegen Ihrer Augen.« Gabriels Augen verdunkelten sich, aus Silber wurde Grau. »Sie sind wegen Ihrer Augen hier.«
Sie musste ihn missverstanden haben. »Verzeihung?«
»Madame René hat Ihnen gesagt, dass Michael und ich Freunde sind.«
Es dauerte einen Moment, bis Victoria den Gedankensprung nachvollzogen hatte.
»Ja. Sie sagte, es gäbe zwischen Ihnen Bande, die nie zerbrechen könnten.«
Außer durch den Tod …
»Als wir dreizehn waren, nahm eine Madame in Paris uns auf.« Die Vergangenheit drängte sich in Gabriels Blick. »Sie bildete uns zu Huren aus.«
Vor sechs Monaten wäre Victoria entsetzt gewesen. In den letzten sechs Monaten hatte sie wesentlich jüngere Jungen und Mädchen gesehen, die auf der Straße ihr Fleisch feilboten.
»Michael.« Den nächsten Satz formulierte Victoria vorsichtig, um das kostbare Gleichgewicht nicht zu zerstören, das sich wiederzwischen ihnen eingestellt hatte. »Wurde er auch dazu ausgebildet, … Männern zu Gefallen zu sein?«
Gabriels Miene blieb unbewegt. » Non .«
Victoria versuchte, sich eine Freundschaft vorzustellen, die zwischen zwei so unterschiedlich ausgebildeten Jungen wachsen konnte.
»Bemitleiden Sie mich nicht, Mademoiselle«, sagte Gabriel scharf.
»Das tue ich nicht.« Victoria schnürte es die Kehle zu. »Ich finde, Sie haben Glück, einen Freund wie Michael zu haben.«
Ein Freund, der den Jungen verstand, der Gabriel früher war, und den Mann, zu dem er herangewachsen war.
Ein Muskel zuckte in Gabriels linker Wange. »Sie sind hier, weil Sie Michaels Augen haben.«
Victoria zwinkerte verständnislos mit den Augen. »Ihr Freund hat blaue Augen?«
»Michael hat hungrige Augen, Mademoiselle. Die Farbe spielt keine Rolle.«
Hungrige Augen …
Hitze wallte in Victoria auf. »Ich … flirte nicht.«
Sie hatte die letzten sechs Monate nicht herausgefordert.
»Sie wollen geliebt werden, Mademoiselle.«
Die fünf Jahre, die Victoria in der Obhut ihres Vaters gelebt hatte, nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte, brachen über sie herein. Er hatte Gefühlsäußerungen, Körperkontakte, Zärtlichkeiten verboten. Das Verlangen einer Frau nach Liebe war ihre Sünde, hatte er immer wieder erklärt.
»Ist das so falsch?«, fragte Victoria; in ihrer Stimme hallte der Schrei eines jungen Mädchens wider. »Ist es eine Sünde, Liebe zu brauchen?«
»Huren können es sich nicht leisten zu lieben.«
»Warum nicht? Warum sollte jemandem schlichte Zuneigung
Weitere Kostenlose Bücher