Abgrund der Lust
werden …
»Es gibt viele Arten von Lügen, Sir.« Victoria hob herausfordernd das Kinn. »Etwas auszulassen ist ebenso eine Lüge, wie etwas Falsches zu sagen.«
»Ich begleiche immer meine Schulden, Mademoiselle.«
Das war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte.
»Glauben Sie, dass Sie mir etwas schulden?« Victoria schluckte. »Und dass Sie diese Schuld abtragen können, indem Sie mir sagen, was ich Ihrer Ansicht nach hören will?«
»Ja«, sagte er. »Ich glaube, dass ich Ihnen etwas schulde, Victoria Childers.«
»Warum?«
»Ich habe einen Mann geliebt, Mademoiselle. Hätte ich ihn nicht geliebt, wären Sie nicht hier.«
Michael . Der auserwählte Engel.
»Sie haben ihn geliebt … wie einen Freund?«
»Ich habe ihn geliebt wie einen Bruder.«
Victoria hatte David geliebt wie einen Bruder. Ihr Vater hatte ihre unschuldige Liebe verdreht und besudelt.
»Liebe ist keine Sünde«, protestierte sie unwillkürlich.
»Nein, Mademoiselle, Liebe ist keine Sünde«, sagte Gabriel unerschütterlich. »Zu lieben ist die Sünde.«
Ein Mann wie er sollte nicht solchen Schmerz empfinden.
Eine Frau wie sie sollte sich nicht darum kümmern.
»Ich wünschte, ich hätte diese Briefe nie gelesen«, sagte Victoria ruhig. »Ich wünschte, ich hätte diese Seite meines Wesens nie kennen gelernt.«
Gabriel rührte sich nicht; plötzlich hatte er das Gefühl, meilenweit weg zu sein. »Sie wünschten, Sie würden einen Engel nicht begehren?«
Vor der Wahrheit gab es kein Versteck.
»Nein.« Victoria begehrte Gabriel, zum Guten oder zum Schlechten. »Nein, das wünsche ich nicht.«
Sie hatte nicht den Mut, Gabriel zu fragen, ob er bereute, sie ersteigert zu haben.
»Madame René hat einige Kleider für Sie geliefert«, sagte Gabriel unvermittelt mit wachsamem Blick.
Victoria atmete tief durch. Es war erst wenige Stunden her, seit Victoria nackt vor Gabriel gestanden hatte, während Madame René ihre Maße nahm. Es kam ihr vor, als seien inzwischen Jahre vergangen.
Gabriel war darauf vorbereitet, dass sie seine Kleider ablehnte. Seine Person. Seine Vergangenheit. Entscheidungen …
»Haben Sie die Kleider mitgebracht?«, fragte Victoria brüsk.
»Nein.«
Sie starrte ihn an. »Woher wissen Sie dann, dass sie hier sind?«
»Als ich zurückkam, sagte Gaston mir, dass sie inzwischen gekommen sind. Ich habe ihm aufgetragen, sie heraufzubringen. Vor ein paar Minuten habe ich gehört, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.«
Und hatte ihr nichts gesagt. Gabriels Unterlassung erstickte das Fünkchen Vorfreude nicht. Victoria hob mit beiden Händen die Seidendecke an und ging ihm voraus aus dem Schlafzimmer.
Auf dem Ledersofa türmten sich weiße Schachteln unterschiedlicher Größe, drei lange Kleiderschachteln, kürzere rechteckige Kartons und drei Hutschachteln. Vier Schuhkartons. Alle waren mit Rosenblüten bedruckt.
Victoria hatte seit über einem Jahr kein neues Kleid mehr bekommen. Noch nie hatte sie ein maßgeschneidertes Kleid besessen. Es schien ihr unangebracht, frivole Freude an teuren Kleidern zu empfinden, während viele auf der Straße so wenig besaßen.
»Das sind zu viele Schachteln«, sagte sie verhalten.
»Madame René hat mir versichert, dass Frauen nie zu viele Kleider haben.«
Lag etwa ein Lächeln in Gabriels Ton? Rasch blickte Victoria auf. Sie hatte schon gesehen, wie sein Mund sich zynisch verzog, aber sie hatte ihn noch nie lächeln sehen. Auch jetzt lächelte er nicht. Aber in seinen Augen lag ein Lächeln.
Wunderschöne silberne Augen …
»Ich werde Ihnen das Geld zurückgeben«, erklärte sie hastig.
Seine Stimme war eine zarte Liebkosung. »Vielleicht ist es mir genug, Ihre Freude zu sehen, Mademoiselle.«
Ihr Magen schlug Purzelbäume. »Flirten Sie mit mir, Sir?«
»Nein, Mademoiselle.« Das Lächeln in seinen Augen verschwand. »Ich flirte nicht.«
»Aber Sie verstehen sich aufs Flirten?«, fragte sie atemlos.
»Ja.«
Aufs Flirten. Aufs Küssen. Auf das Bereiten von Lust.
Aber er verstand es nicht, selbst Lust zu empfinden.
»Was soll ich zuerst aufmachen?«, fragte sie. Und wusste, dass sie klang wie ein Kind an Weihnachten.
Vage Erinnerungen wurden wach. An eine liebevolle Stimme, an warmes Lachen … Klänge, die einem elfjährigen Mädchen vertraut waren, einer vierunddreißigjährigen Frau nicht. Die Erinnerungen verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.
Gabriel deutete auf das Sofa. »Welche Sie wollen, Mademoiselle.«
Zögernd
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