Abgrund: Roman (German Edition)
sie haben geleuchtet und gezuckt, als würden sie Schmerzen leiden …«
»Ich glaube, danach wäre ich auch nicht mehr dort hinaufgeschwommen.«
»Das Merkwürdige daran war, dass ich das Tier in gewisser Weise beneidet habe.« Nakatas Augen füllen sich mit Tränen, die ihr die Wangen hinablaufen, doch ihre Stimme verändert sich nicht. »Es muss schön sein, sich einfach … von den Teilen seiner selbst trennen zu können, die einen verraten.«
Clarke lächelt, ganz in Gedanken versunken. »Ja.« Plötzlich wird ihr klar, dass sie nur noch wenige Zentimeter von Alice Nakata entfernt ist. Sie berühren einander beinahe.
Wie lange sitze ich schon hier?, fragt sie sich. Sie verlagert das Gewicht auf der Pritsche und rückt aus Gewohnheit von Nakata ab.
»Judy hat das anders gesehen«, sagt Nakata. »Ihr haben die zurückgelassenen Körperteile leidgetan. Ich glaube, sie war beinahe wütend auf den Zentralkörper, können Sie sich das vorstellen? Sie hat es einen dummen, blinden Kloß genannt und – wie hat sie sich ausgedrückt? –, dass es ›verdammt typisch für eine Bürokratie‹ sei, ›sich bei dem ersten Anzeichen von Schwierigkeiten der Teile zu entledigen, die sie ernähren‹. Das hat sie gesagt.«
Clarke lächelt. »Das klingt nach Judy.«
»Sie lässt sich von niemandem etwas gefallen«, sagt Nakata. »Sie setzt sich immer zur Wehr. Das mag ich so an ihr. Ich selbst könnte das nicht. Wenn es richtig schlimm wird, dann …« Sie blickt zu dem kleinen schwarzen Gerät hinüber, das neben ihrem Kopfkissen an der Wand befestigt ist. »Träume ich.«
Clarke nickt, ohne etwas zu erwidern. Sie kann sich nicht erinnern, dass Alice Nakata jemals zuvor so mitteilsam gewesen wäre.
»Das ist deutlich besser als VR. Man hat viel mehr Kontrolle darüber. In der VR ist man auf die Träume eines anderen angewiesen.«
»Davon habe ich schon gehört.«
»Sie haben es selbst noch nie ausprobiert?«, fragt Nakata.
»Wachträumen? Ein paarmal. Es hat mir nicht besonders gefallen.«
»Nein?«
Clarke zuckt mit den Achseln. »Meine Träume sind meist nicht sehr detailreich.« Oder zu detailreich . Sie deutet mit einem Nicken auf Nakatas Gerät. »Unter dem Einfluss dieses Dings bin ich wach genug, um zu bemerken, wie verschwommen meine Träume sind. Und wenn sich mal irgendeine Einzelheit herausschält, ist es etwas Blödsinniges. Würmer, die mir über die Haut kriechen oder etwas in der Art.«
»Aber das können Sie kontrollieren. Das ist doch der Sinn des Ganzen. Sie können Ihre Träume verändern .«
Vielleicht können Sie das . »Aber man muss sich die schlimmen Dinge trotzdem erst einmal anschauen. Ich glaube, das hat für mich die Wirkung des Ganzen zunichte gemacht. Außerdem bestanden meine Träume größtenteils nur aus großen, verschwommenen Lücken.«
»Ah.« Ein Lächeln huscht über Nakatas Gesicht. »Das ist für mich kein Problem. Die Welt kommt mir auch im Wachzustand ziemlich verschwommen vor.«
»Nun ja.« Clarke erwidert zögernd ihr Lächeln. »Jeder nach seinem Geschmack.«
Eine Zeitlang herrscht Schweigen.
»Ich wünschte nur, ich wüsste, was passiert ist«, sagt Nakata schließlich.
»Verständlich.«
»Sie haben gewusst, was mit Karl passiert ist. Es war zwar schlimm, aber wenigstens haben Sie es gewusst.«
»Ja.«
Nakata blickt zu Boden. Clarke schaut ebenfalls nach unten und stellt fest, dass ihre Hände Nakatas umklammert halten. Damit versucht sie ihr wohl Trost zu spenden. Es ist ein gutes Gefühl. Sanft drückt sie Nakatas Hände.
Nakata blickt sie an. Ihre dunklen Augen wirken irgendwie überrascht.
»Lenie, sie hat sich nie über mich beschwert. Ich habe mich vor ihr zurückgezogen, habe geträumt, und manchmal bin ich auch ziemlich durchgedreht, und sie hat trotzdem zu mir gehalten. Sie hat mich verstanden … sie versteht mich.«
»Wir sind Rifter, Alice.« Clarke zögert und beschließt dann, noch einen Schritt weiter zu gehen. »Wir verstehen Sie alle.«
»Außer Ken.«
»Wissen Sie, ich glaube, Ken versteht womöglich mehr, als wir denken. Er wollte vorhin sicher nicht taktlos erscheinen. Er ist auf unserer Seite.«
»Ken ist irgendwie seltsam. Er ist nicht aus dem gleichen Grund hier wie wir.«
»Und welcher Grund wäre das?«, fragt Clarke.
»Uns hat man hierhergebracht, weil das der Ort ist, wo wir hingehören«, sagt Nakata fast im Flüsterton. »Aber bei Ken war es anders, glaube ich … Die NB hat es einfach nicht gewagt, ihn irgendwo anders
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