Abgrund: Roman (German Edition)
sagen die Wahrheit. Aber es handelt sich doch trotzdem nur um eine Mikrobe.«
»Sie denken an Antibiotika. Die zeigen entweder keine Wirkung oder bringen den Patienten um. Und wir können keinen Virus als Gegenmittel erschaffen, da ßehemoth einen einzigartigen genetischen Code besitzt.« Scanlon öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Rowan hob die Hand. »Als Nächstes wollen Sie vorschlagen, dass wir etwas ganz Neues entwickeln, das an ßehemoths genetischen Aufbau angepasst ist. Wir arbeiten daran. Doch diese Mikrobe benutzt dasselbe Molekül für die Replikation wie für die Katalyse. Haben Sie eine Ahnung, wie schwierig das die Sache macht? Wie ich gehört habe, wird es wohl noch ein paar Wochen dauern, bis wir überhaupt herausgefunden haben, wo ein Gen aufhört und das nächste beginnt. Dann versuchen wir das Alphabet zu entziffern. Und danach die Sprache. Dann können wir vielleicht ein Gegenmittel entwickeln. Und wenn wir tatsächlich zum Gegenangriff übergehen, kann eines von zwei Dingen passieren. Entweder bringt unser Virus seinen Gegner so schnell um, dass er sich der Möglichkeiten seiner eigenen Übertragung beraubt. Dann hat man zwar einige Populationen abgetötet, aber das Grundproblem nicht gelöst. Oder unser Virus ist zu langsam, um mit seinem Gegner Schritt zu halten. Ein klassisches chaotisches System. Uns bleibt nicht mehr genügend Zeit, um die Letalität genau abzustimmen. Eindämmung ist unsere einzige wirkliche Alternative.«
Während sie sprach, blieben ihre Augen seltsam dunkel.
»Sie scheinen also doch ein paar Einzelheiten zu kennen«, stellte Scanlon ruhig fest.
»Es ist wichtig, Yves.«
»Nennen Sie mich bitte Dr. Scanlon.«
Sie lächelte traurig. »Entschuldigen Sie, Dr. Scanlon. Es tut mir wirklich leid.«
»Und was ist mit den anderen?«
»Die anderen«, wiederholte sie.
»Clarke, Lubin. Die Mannschaften in den Stationen am Meeresboden.«
»Soweit wir wissen, sind die anderen Stationen nicht befallen. Es ist nur dieser kleine Flecken auf dem Juan-de-Fuca-Rücken.«
»Das ist ja mal wieder typisch«, sagte Scanlon.
»Wie meinen Sie das?«
»Die Rifter hatten es nie besonders leicht, wissen Sie. Von Kindesbeinen an wurden sie stets und ständig über den Tisch gezogen. Und jetzt taucht an einem einzigen Ort auf der ganzen Welt diese Mikrobe auf, und natürlich dort, wo sie leben.«
Rowan schüttelte den Kopf. »Oh, wir haben sie auch an anderen Orten gefunden. Doch die waren alle unbewohnt. Beebe war die einzige …« Sie seufzte. »Eigentlich haben wir ziemliches Glück gehabt.«
»Nein, das haben Sie nicht.«
Sie blickte ihn an.
»Ich sag’s ja nur ungern, Pat, aber letztes Jahr hat eine ganze Mannschaft Bauarbeiter dort unten gearbeitet. Ihre Jungs und Mädels sind dabei vielleicht nicht nass geworden, aber glauben Sie wirklich, ßehemoth hätte nicht auch über ihre Ausrüstung an die Oberfläche gelangen können?«
»Nein«, sagte Rowan, »das glauben wir nicht.«
Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Scanlon brauchte einen Moment, um zu begreifen.
»Die Urchin-Werft«, flüsterte er. »Coquitlam.«
Rowan schloss die Augen. »Und andere.«
»Gütiger Himmel«, brachte er heraus. »Dann ist es also bereits freigesetzt.«
»Es wurde freigesetzt«, berichtigte ihn Rowan. »Möglicherweise konnten wir es eindämmen. Wir wissen es noch nicht genau.«
»Und wenn es Ihnen nun nicht gelungen ist?«
»Wir versuchen es weiterhin. Was bleibt uns anderes übrig?«
»Gibt es wenigstens eine Obergrenze? Irgendeine maximale Zahl an Menschenleben, bei der Sie Ihre Niederlage eingestehen? Sagt Ihnen eines Ihrer Modelle, wann es Zeit ist, Ihrem Gegner den Sieg zu überlassen?«
Scanlon sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten, auch wenn er sie nicht hören konnte: Ja .
»Aha!«, sagte er. »Nur aus reiner Neugier: Wie hoch wäre dieser Grenzwert?«
»Zweieinhalb Milliarden.« Er konnte sie kaum verstehen. »Wenn die gesamte Pazifikküste vernichtet wird.«
Sie meint es ernst. Sie meint es tatsächlich ernst . »Sind Sie sicher, dass das ausreicht? Meinen Sie wirklich, das ist genug?«
»Ich weiß es nicht. Mit etwas Glück werden wir es nie herausfinden müssen. Aber wenn das nicht hilft, dann ist alles verloren. Alles andere wäre … sinnlos. Zumindest den Hochrechnungen zufolge.«
Er wartete darauf, dass das Begreifen einsetzte. Doch es kam nicht. Die Zahlen waren einfach zu hoch.
Auf einer rein persönlichen Ebene wirkte das Ganze allerdings schon
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