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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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irgendetwas nütze war.
    Es dreht sich um und schwimmt in die Richtung zurück, aus der es geflohen ist. Die Entfernung hat die Lichter in ein diffuses, trübes Leuchten verwandelt. Die Frau ist dort irgendwo, ungeschützt.
    Langsam schwimmt das Reptil auf das Leuchtfeuer zu. Das Leuchten zerfällt wieder in einzelne Lichter, und dahinter lauert noch immer die dunkle, bedrohliche Gestalt. Das Ding aus dem Himmel senkt sich darauf herab und gibt dabei Geräusche von sich, die zugleich furchterregend und vertraut klingen.
    Die Frau schwebt im Licht und wartet. Furchtsam und dennoch entschlossen schwimmt das Reptil auf sie zu.
    »HörenSie.«
    Das Reptil zuckt zusammen, doch dieses Mal weicht es nicht zurück.
    »IchwollteSienichterschrecken, aberdrinnenantwortetniemand. IchsollSiehierabholen.«
    Die Frau gleitet nach oben, auf das Ding aus dem Himmel zu, und bleibt vor dem glänzenden runden Teil an seiner Vorderseite stehen. Das Reptil kann nicht erkennen, was sie dort tut. Zögerlich und mit von der ungewohnten Helligkeit schmerzenden Augen schwimmt es hinter ihr her.
    Doch sie dreht sich um und kommt nun ihrerseits auf das Reptil zugeschwommen. Sie ergreift seine Hand und führt es an der gewölbten Oberfläche des Dings entlang nach unten, an dem Ring aus Lichtern vorbei, der sich um dessen Mitte herumzieht (zu hell, viel zu hell), bis zu …
    Das Broca-Areal gibt die ganze Zeit irgendwelchen Kauderwelsch von sich: eeeebbeeebeebebeebe beebe . Und jetzt ist da auch noch etwas anderes, das sich im Innern des Reptils regt. Instinkt. Gefühl. Weniger eine Erinnerung als vielmehr ein Reflex …
    Es weicht zurück, plötzlich von Furcht erfüllt.
    Die Frau zieht es weiter und gibt dabei seltsame Geräusche von sich: siekönnenmithineinkommenjerryesistallesinordnung . Das Reptil wehrt sich, erst nur zögernd, dann immer energischer. Es gleitet an der grauen Wand entlang, die mal eine Klippe, mal ein Überhang zu sein scheint, und sucht verzweifelt nach Halt. Es bekommt ein paar Ausstülpungen zu fassen und hält sich an der merkwürdigen harten Oberfläche fest. Sein Kopf zuckt immer wieder zwischen Licht und Dunkelheit hin und her.
    »…schonGerrySiemüssenmit nach drinnen kommen …«
    Das Reptil erstarrt. Drinnen . Dieses Wort kennt es. Irgendwie versteht es sogar, was es bedeutet. Broca ist nun nicht mehr allein. Da ist noch etwas anderes, das sich vom Schläfenlappen aus zu Wort meldet. Irgendetwas dort weiß, wovon Broca redet.
    Wovon sie redet.
    »Gerry …«
    Dieses Geräusch kennt es ebenfalls.
    »… bitte …«
    Es stammt aus einer längst vergangenen Zeit.
    » … vertrauen Sie mir … Ist da drinnen noch etwas von Ihnen übrig? Irgendetwas?«
    Einer Zeit, als das Reptil noch Teil von etwas Größerem war, und gar kein Es , sondern …
    … ein Er .
    Ansammlungen von Nervenzellen, die lange Zeit untätig gewesen waren, blitzen nun wieder in der Dunkelheit auf. Alte, vergessene Unterprogramme erwachen stotternd zum Leben und beginnen sich hochzufahren.
    Ich …
    »Gerry?«
    Mein Name. Das ist mein Name . Wegen des plötzlich einsetzenden Gemurmels in seinem Kopf kann er kaum einen klaren Gedanken fassen. Manche Teile von ihm sind noch nicht aus dem Schlaf erwacht und schweigen weiterhin, während andere Teile vollkommen weggespült wurden. Er schüttelt den Kopf, um wieder klar denken zu können. Die neuen Teile – nein, die alten Teile, die ganz alten Teile, die verschwunden waren und nun wieder aufgetaucht sind und nicht mehr die Klappe halten wollen – ringen alle gleichzeitig um seine Aufmerksamkeit.
    Überall ist es so hell. Überall tut alles weh. Überall …
    Worte strömen durch seinen Geist: Die Lichter sind an. Niemand ist zu Hause .
    Flackernd geht das Licht an.
    Er erhascht einen Blick auf kranke, faulige Dinge, die in seinem Kopf herumwimmeln. Alte Erinnerungen reiben sich knirschend an dicken Korrosionsschichten. Plötzlich taucht etwas klar und deutlich in seinem Blickfeld auf: eine Faust. Das Gefühl von Knochen in seinem Gesicht, die brechen. Der Ozean in seinem Mund, warm und irgendwie brackig. Ein Junge mit einem Elektroschocker. Ein Mädchen, den Körper voller Blutergüsse.
    Andere Jungen.
    Andere Mädchen.
    Andere Fäuste.
    Alles tut weh, überall.
    Etwas versucht, seine Finger zu lösen. Etwas will ihn nach drinnen holen. Es will all das zurückbringen. Es will ihn nach Hause bringen.
    Worte steigen in ihm auf, und er lässt ihnen freien Lauf: »Fassen Sie mich verdammt noch mal NICHT

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