Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
Vom Netzwerk:
Armbanduhr.
    Die Stadt wurde dunkel.
    Die Tiefe kam hereingeströmt, schwarz und hungrig. Eine einzelne Ansammlung von Gebäuden funkelte immer noch trotzig in der plötzlichen Leere; ein Krankenhaus vielleicht, das von Notgeneratoren versorgt wurde. Einige wenige Privatfahrzeuge, altmodische Gefährte mit eigenem Motor, taumelten wie Glühwürmchen durch Straßen, die plötzlich blind geworden waren. Das Rapitrans-Netz leuchtete ebenfalls noch, wenn auch schwächer als sonst.
    Rowan warf einen Blick auf die Uhr. Seit dem Beschluss war erst eine Stunde vergangen. Erst eine Stunde, seit sie zum Handeln gezwungen worden waren. Irgendwie kam es ihr länger vor.
    »Taktische Übertragung von Erdbebenherd einunddreißig«, sagte sie. »Entschlüsselt.«
    Ihre Augen füllten sich mit Informationen. In der Luft vor ihr erschien eine Falschfarbkarte eines aufgerissenen und von Narben durchzogenen Meeresbodens. Eine der Narben erzitterte.
    Hinter der virtuellen Anzeige, jenseits des Fensters, ging in einem Teil der Stadt flackernd das Licht wieder an. Weiter im Norden leuchtete ein anderer Sektor ebenfalls wieder auf. Rowans Untergebene waren fieberhaft damit beschäftigt, Energie von Gorda und Mendocino umzuleiten, von den Sonnenfarmen am Äquator und von tausenden kleinen Staudämmen überall im Cordillera-Gebirge. Dennoch würde es einige Zeit in Anspruch nehmen. Mehr, als ihnen zur Verfügung stand.
    Vielleicht hätten wir sie warnen sollen . Selbst eine Stunde im Voraus hätte eine Ankündigung noch von Nutzen sein können. Für eine Evakuierung hätte das natürlich nicht ausgereicht, doch dann hätten die Leute zumindest noch Zeit gehabt, ihr Porzellan aus den Schrankwänden zu nehmen. Oder um besondere Vorkehrungen zu treffen, was immer ihnen das auch genützt hätte. Genügend Zeit, um die gesamte Küste in Panik zu versetzen, sollte sich die Nachricht herumsprechen. Und deshalb hatte nicht einmal ihre eigene Familie erfahren, warum sie so überraschend eine Reise zur Ostküste unternahm.
    Vor Rowans Augen kräuselte sich der Meeresboden, als bestünde er aus Gummi. Auf der durchsichtigen Ebene darüber, die die Oberfläche des Ozeans darstellte, bildeten sich Ringe. Die beiden Druckwellen jagten einander auf der Anzeige, wobei das Beben auf dem Meeresboden stets voraneilte. Es näherte sich der Cascadia-Subduktionszone, raste dagegen und löste Erschütterungen aus, die sich entlang der Verwerfung im rechten Winkel fortsetzten. Einen Moment lang schien die Druckwelle zu zögern, und Rowan hoffte beinahe, dass die Zone sie aufgehalten hätte.
    Doch dann begann die Zone selbst in Bewegung zu geraten, langsam und schwerfällig und anfangs kaum wahrnehmbar. Tief unten in der Moho ließen fünfhundert Jahre alte Fingernägel unter Schmerzen los. Die Spannung, die sich in all der Zeit aufgebaut hatte, ließ endlich nach.
    Nächster Halt: Vancouver Island.
    Etwas Undenkbares wanderte die Juan-de-Fuca-Straße entlang. Tangerntemaschinen und Supertanker würden plötzlich feststellen, dass mit der Wassersäule unter ihnen etwas nicht in Ordnung war. Wenn Menschen an Bord waren, blieben ihnen noch wenige Augenblicke, um darüber nachzudenken, wie nutzlos eine Warnung war, die neunzig Sekunden vor der eigentlichen Katastrophe eintraf.
    Und damit blieb ihnen noch mehr Zeit als der Flüchtlingszone.
    Auf der taktischen Anzeige waren natürlich keine Einzelheiten zu erkennen. Sie zeigte nur eine braune Welle, die sich über die Felsen an der Küste weiter ins Inland fortsetzte. Und einen weißen Bogen, der der Welle auf Höhe des Meeresspiegels folgte. Sie zeigte nicht, wie sich der Ozean vor der Küste auftürmte wie ein mittleres Gebirge. Oder wie der Meeresspiegel immer weiter anstieg. Oder wie eine dreißig Meter hohe Wasserwand schließlich fünf Millionen Flüchtlinge zerschmetterte.
    Rowan sah die Bilder dennoch vor sich.
    Mit brennenden Augen blinzelte sie dreimal. Gehorsam verschwand die Anzeige. In dem im Koma liegenden Netz blinkten hier und da die roten Punkte von Kranken- und Polizeiwagen auf – ob wegen bereits eingegangener Notrufe oder als Vorsichtsmaßnahme, wusste sie nicht. Die Entfernung und das schalldichte Fenster verhinderten, dass der Gesang der Sirenen zu ihr herüberdrang. Ganz sanft begann der Erdboden zu beben.
    Fast glich es einem Wiegenlied, das sich Stück für Stück zu einem gewaltigen Crescendo hochschaukelte, das sie fast von den Füßen warf. Um sie herum ächzte und stöhnte das Gebäude,

Weitere Kostenlose Bücher