Abgrund: Roman (German Edition)
gelitten hat, als sie ihn in dem Sitz festgeschnallt hat.
»Hören Sie, es tut mir leid«, sagt er nach einer Weile. »Es ist nur … Unsere Situation ist nicht besonders vielversprechend, wissen Sie? Könnten Sie bitte einfach den Reißverschluss des Anzugs öffnen und ihn über mir ausbreiten?«
Sie tut, was er sagt.
»So ist es besser.« Allerdings zittert er immer noch. »Ich bin übrigens Joel.«
»Mein Name ist Cl… Lenie«, erwidert sie.
»Also gut, Lenie. Wir sind auf uns selbst gestellt, sämtliche Systeme sind ausgefallen, und wir sinken zum Meeresboden hinab. Irgendwelche Vorschläge?«
Ihr fällt nichts ein.
»Okay, okay.« Joel holt ein paarmal tief Luft. »Wie viel Hydrox haben wir noch?«
Sie klettert hinunter und blickt auf die Druckanzeige an den Tanks. »Sechzehntausend. Wie viel Volumen haben wir?«
»Nicht viel.« Er runzelt die Stirn und tut so, als würde er sich konzentrieren. »Zweihundert Meter, haben Sie gesagt. Das heißt, als Sie die Luke geschlossen haben, waren wir bei, warten Sie, zwanzig Atmosphären. Uns sollten also noch etwa hundert Minuten bleiben.« Er versucht zu lachen, aber es will ihm nicht recht gelingen. »Wenn sie tatsächlich ein Rettungsboot schicken, dann sollten sie es, verdammt noch mal, bald tun.«
Sie geht auf sein Spiel ein. »Es könnte schlimmer sein. Wie viel Zeit bliebe uns, wenn wir die Luke erst bei, sagen wir, tausend Metern geschlossen hätten?«
Wieder durchläuft ihn ein Zittern. »Ähhm … Zwanzig Minuten. Und der Meeresboden befindet sich in dieser Gegend ungefähr in viertausend Metern Tiefe. So weit unten hätten wir höchstens … allerhöchstens noch fünf Minuten.« Er schnappt nach Luft. »Hundertacht Minuten ist gar nicht so schlecht. In hundertacht Minuten kann eine Menge passieren …«
»Ich frage mich, ob sie rechtzeitig weggekommen sind«, flüstert Clarke.
»Was haben Sie gesagt?«
»Da waren noch andere. Meine … Freunde.« Sie schüttelt den Kopf. »Sie wollten zurückschwimmen.«
»Zum Festland? Das ist verrückt!«
»Nein. Es könnte funktionieren, wenn sie nur weit genug gekommen sind, ehe …«
»Wann haben sie die Station verlassen?«, fragt Joel.
»Etwa acht Stunden, bevor Sie eingetroffen sind.«
Joel sagt nichts mehr.
»Sie könnten es geschafft haben«, wiederholt Lenie beharrlich und hasst ihn für sein Schweigen.
»Lenie, bei der Reichweite … Ich glaube nicht.«
»Es ist möglich. Sie können nicht einfach … Oh nein …«
»Was?« Joel reckt sich in seinen Gurten und versucht zu erkennen, wohin sie blickt. »Was ist?«
Anderthalb Meter unter Lenie Clarkes Füßen schießt eine Nadel Meerwasser vom Rand der Cockpitluke empor. Vor ihren Augen brechen zwei weitere hervor.
Das Meer hinter dem Bullauge ist inzwischen dunkelblau.
Der Ozean strömt in die Forcipiger hinein und drängt die Atmosphäre erbarmungslos immer weiter in die Ecke.
Das Blau verblasst. Bald wird nur noch Schwärze übrig sein.
Lenie Clarke sieht Joels Blick, der auf die Luke gerichtet ist. Nicht auf den undichten Verräter, der den Feind aus dem Cockpit in die Kabine gelassen hat. Der ist inzwischen unter beinahe zwei Metern Eiswasser verschwunden. Nein, Joels Blick ist auf die Andockluke am Bauch des Tauchboots gerichtet, die einst die Verbindung zur Station Beebe hergestellt hat. Sie ist in die Wand eingelassen, die einmal das Deck war, und noch immer dicht verschlossen, während das Wasser an ihrem unteren Rand zu lecken beginnt. Und Lenie Clarke weiß genau, was Joel denkt, weil auch ihr dieser Gedanke schon gekommen ist.
»Lenie«, sagt er.
»Ich bin hier.«
»Haben Sie jemals versucht, sich umzubringen?«
Sie lächelt. »Klar. Hat das nicht jeder schon einmal?«
»Aber es hat nicht geklappt.«
»Offensichtlich nicht«, stimmt Clarke ihm zu.
»Was ist passiert?«, fragt Joel. Er hat wieder zu zittern begonnen – das Wasser hat ihn inzwischen beinahe erreicht –, doch sonst klingt seine Stimme vollkommen ruhig.
»Nicht viel. Ich war elf. Ich habe mir ein paar Schlafmittel-Pflaster überall auf den Körper geklebt und das Bewusstsein verloren. Auf einer Station des städtischen Krankenhauses bin ich wieder aufgewacht.«
»Mist. Das ist ja kaum besser als ein Krankenhaus für Flüchtlinge.«
»Nun ja, nicht jeder ist reich. Außerdem war es gar nicht so schlimm. Unter dem Personal gab es sogar ein paar Psychologen. Ich habe selbst mit einem gesprochen.«
»Ach ja?« Seine Stimme fängt wieder an zu zittern.
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