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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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sämtliche Lichter aus. Das Leuchten der Stadt fiel durch das Fenster in den Raum und gestattete ihr nicht, in der Dunkelheit Zuflucht zu suchen.
    Patricia Rowan blickte hinaus. Das Netz aus den miteinander verwobenen Nervenbahnen der Großstadt erstreckte sich mit seinen glühenden Synapsen bis zum Horizont. Ihr Blick wanderte nach Südwesten und richtete sich dort auf einen bestimmten Punkt. Sie blickte in die Ferne, bis ihr die Augen tränten, und wagte kaum zu blinzeln, aus Furcht, irgendetwas zu verpassen.
    Von dort würde es kommen.
    Oh Gott! Wenn es doch nur eine andere Möglichkeit gäbe .
    Es hätte funktionieren können. Die Experten, die die Modelle erstellt hatten, waren der Meinung gewesen, dass eine gute Chance bestand, das Ganze durchzuziehen, ohne dass auch nur eine Fensterscheibe kaputtging. All die Verwerfungen und Risse, die zwischen ihnen und dem Epizentrum lagen, hätten sich zu ihrem Vorteil auswirken sollen; Feuerschneisen, die verhindert hätten, dass sich das Beben bis hierher ausbreitete. Man hätte nur auf den richtigen Augenblick warten müssen: eine Woche, einen Monat. Perfektes Timing, darauf wäre es angekommen.
    Und darauf, dass sich der Fleischbrocken, der die Berechnungen durchführte, nach menschlichen Regeln richtete, anstatt seine eigenen zu erfinden.
    Doch sie konnte dem künstlichen Bewusstsein keinen Vorwurf machen. Den Systemtechnikern zufolge wusste das Gel es einfach nicht besser. Es tat lediglich, was es für richtig hielt. Und als sie schließlich die Wahrheit herausfanden – nachdem Rowan sich zum hundertsten Mal Scanlons rätselhaftes Gespräch mit dem verdammten Ding durch den Kopf hatte gehen lassen, nachdem sie die Aufzeichnung davon in die Abteilung Chem Cog gebracht hatte und die Gesichter der Techniker, die zunächst verblüfft und verwirrt ausgesehen hatten, plötzlich ganz bleich vor Furcht geworden waren –, war es längst zu spät gewesen. Das Zeitfenster war geschlossen. Die Maschinerie hatte sich bereits in Gang gesetzt. Und auf den Bildern der Satellitenkameras war plötzlich ein einsames Shuttle der NB aufgetaucht, das sich eigentlich sicher verankert in Astoria befinden sollte, aber stattdessen über dem Juan-de-Fuca-Rücken schwebte.
    Da sie dem Gel nicht die Schuld geben konnte, hatte sie versucht, die Einsatzleitung dafür verantwortlich zu machen. »Wie kann es sein, dass das Ding, nach allem, was Sie ihm einprogrammiert haben, für ßehemoth arbeitet? Warum ist Ihnen das nicht schon früher aufgefallen? Sogar Scanlon ist darauf gekommen, verdammt noch mal!« Aber sie hatten zu viel Angst gehabt, als dass sie sich von ihr hätten einschüchtern lassen. Sie haben uns mit dieser Aufgabe betraut, hatten sie erwidert. Und Sie haben uns nicht gesagt, was dabei auf dem Spiel steht. Sie haben uns nicht einmal verraten, was eigentlich von uns erwartet wird. Scanlon ist an die Sache ganz anders herangegangen. Wer hätte wissen können, dass das Käsehirn eine Vorliebe für einfache Systeme hat? Wir haben ihm das jedenfalls nicht beigebracht …
    Ihre Armbanduhr gab ein leises Piepsen von sich. »Sie wollten benachrichtigt werden, Ms. Rowan. Ihre Familie ist in Sicherheit.«
    »Vielen Dank«, sagte sie und kappte die Verbindung.
    In gewisser Hinsicht fühlte sie sich schuldig, weil sie ihre Familie gerettet hatte. Es erschien ihr höchst ungerecht, dass die Einzigen, die den Holocaust überlebten, die Angehörigen derjenigen sein sollten, die ihn heraufbeschworen hatte. Doch sie tat nur, was jede Mutter täte. Wahrscheinlich sogar mehr als das, denn sie würde hierbleiben.
    Das war nicht weiter schlimm. Vermutlich würde sie nicht einmal sterben. Die Gebäude der NB waren so konstruiert worden, dass sie einem Jahrhundertbeben standhalten konnten. Morgen zur selben Zeit würden die meisten Gebäude in diesem Bezirk wahrscheinlich immer noch stehen. Allerdings konnte man das Gleiche nicht für Hongcouver, SeaTac oder Victoria behaupten.
    Morgen würde sie dabei helfen, so gut wie möglich die Scherben wieder aufzusammeln.
    Vielleicht haben wir Glück, und das Erdbeben wird gar nicht so schlimm. Wer weiß, womöglich hatte das Gel dort unten sowieso den heutigen Abend ausgewählt …
    Bitte …
    Patricia Rowan hatte schon früher Erdbeben miterlebt. Eine Plattenverschiebung vor Peru hatte Lima erschüttert, als sie dort mit dem Upwell-Projekt beschäftigt gewesen war. Das Erdbeben hatte beinahe einen Wert von neun auf der Momenten-Magnituden-Skala erreicht.

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