Abgrund: Roman (German Edition)
»Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, dass die Welt voller Menschen ist, die ihn dringender brauchen als ich. Und das nächste Mal, wenn ich Aufmerksamkeit erregen möchte, soll ich es doch bitte auf eine Weise tun, die nicht auf Kosten des Steuerzahlers geht.«
»V-verdammt. Was für ein A-arschloch.« Joels Zittern ist stärker geworden.
»Nein. Er hatte recht. Und ich habe es nie wieder versucht, also muss es funktioniert haben.« Clarke gleitet ins Wasser. »Ich ändere das Gemisch. Sie sehen aus, als würden Sie wieder Krämpfe bekommen.«
»Len …«
Doch sie ist verschwunden, ehe er weitersprechen kann.
Sie schwimmt zum Boden der Kabine hinab und dreht an den Hähnen, die sie dort findet. Bei hohem Druck verwandelt sich Sauerstoff in Gift. Je tiefer sie hinabsinken, desto weniger Sauerstoff können sie vertragen, ohne Krämpfe zu bekommen. Das ist das zweite Mal, dass sie den Sauerstoff reduzieren muss. Jetzt atmen Joel und sie nur noch ein Prozent O 2 .
Wenn Joel lange genug überlebt, kommen jedoch noch andere Dinge auf sie zu, die sie nicht kontrollieren kann. Joel ist nicht mit den Neuroinhibitoren ausgestattet, die die Rifter besitzen.
Sie muss wieder hinauf und ihm gegenübertreten. Sie hält den Atem an, denn es lohnt sich nicht, für lumpige zwanzig oder dreißig Sekunden den Elektrolyseur einzuschalten. Doch es reizt sie, es dennoch zu tun und einfach hier unten zu bleiben. Solange sie hier unten ist, kann er sie nicht darum bitten. So lange ist sie sicher.
Aber bei allem, was sie in ihrem Leben durchgemacht hat, ist sie doch nie ein Feigling gewesen.
Sie kommt wieder hoch. Joels Blick ist immer noch auf die Luke gerichtet. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen.
»He, Joel«, sagt sie rasch, »sind Sie sicher, dass ich mich nicht umwandeln soll? Es hat doch keinen Sinn, wenn ich unnötig Ihre Luft verbrauche.«
Er schüttelt den Kopf. »In den letzten Minuten meines Lebens will ich nicht diese Maschinenstimme hören, Lenie. Bitte. Bleiben Sie einfach bei mir.«
Sie wendet den Blick ab und nickt.
»Verdammt, Lenie«, sagt er. »Ich habe solche Angst.«
»Ich weiß«, sagt sie leise.
»Diese Warterei ist einfach … Gott, Lenie, nicht einmal einem Hund würde man so etwas antun. Bitte.«
Sie schließt die Augen und wartet.
»Öffnen Sie die Luke, Lenie.«
Sie schüttelt den Kopf. »Joel, ich konnte mich nicht einmal selbst umbringen. Nicht, als ich elf war. Und auch nicht … vergangene Nacht. Wie kann ich da …«
»Meine Beine sind kaputt, Len. Ich spüre kaum noch etwas. Ich k-kann nicht einmal mehr richtig sprechen. Bitte.«
»Warum haben die uns das angetan, Joel? Was geht hier vor?«
Er antwortet nicht.
»Wovor haben die solche Angst? Warum sind sie so …«
Schwankend richtet er sich auf und fällt zur Seite. Sein Arm ist ausgestreckt, und seine Hand bekommt den Rand der Luke zu fassen. Mit der anderen greift er nach dem Rad in ihrer Mitte.
Seine Beine unter ihm sind grotesk verdreht, doch er scheint es nicht einmal zu bemerken.
»Es tut mir leid«, flüstert sie. »Ich konnte nicht …«
Unter Mühen gelingt es ihm, mit beiden Händen das Rad zu fassen zu bekommen. »Kein Problem.«
»Oh Gott! Joel …«
Er starrt die Luke an. Seine Finger umklammern das Rad.
»Wissen Sie was, Lenie?« Kälte liegt in seiner Stimme und Furcht, aber auch eine grimmige Entschlossenheit.
Sie schüttelt den Kopf. Ich weiß gar nichts.
»Ich hätte wirklich gern mit Ihnen geschlafen«, sagt er.
Sie weiß nicht, was sie darauf erwidern soll.
Er dreht das Rad herum und zieht an dem Hebel.
Die Luke wird in das Tauchboot gedrückt, und der Ozean strömt herein. Irgendwie hat sich Lenie Clarkes Körper auf diesen Augenblick vorbereitet, ohne dass sie es bemerkt hat.
Sein Körper wird gegen sie gedrückt. Möglicherweise kämpft er gegen das Wasser an. Oder es ist nur der hereinströmende Pazifik, der mit ihm spielt. Sie weiß nicht, ob er noch am Leben ist oder schon tot. Doch sie hält ihn blindlings fest, während der Ozean sie herumwirbelt, bis es keinen Zweifel mehr gibt.
Nachdem ihre Atmosphäre nun entwichen ist, beschleunigt die Forcipiger . Lenie Clarke ergreift Joels leblosen Körper an den Händen und zieht ihn durch die Luke hinaus. Er folgt ihr in den flüssigen Raum. Das Tauchboot sinkt trudelnd unter ihnen abwärts und ist innerhalb weniger Augenblicke verschwunden.
Mit einem sanften Schubser lässt Lenie Joels Leichnam frei. Er beginnt langsam zur Oberfläche
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