Abgrund: Roman (German Edition)
hinauszögern. Konnte gegen den Impuls des Traumerzeugers neben seinem Bett ankämpfen und noch ein paar Sekunden lang verhindern, dass er ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Zufallsbilder aus dreißig Jahren flackerten in diesem Augenblick durch seinen Kopf: abgeholzte Wälder, sich ausbreitende Wüsten, UV-Finger, die immer tiefer in die öden Meere hinabtauchten. Ozeane, die stetig weiter die Küste hinaufkrochen. Ökologisch wertvolle Gebiete, die sich in Zeltlager für Flüchtlinge verwandelten. Zeltlager, aus denen Gezeitenzonen wurden.
Und dann war Yves Scanlon wieder wach, schweißüberströmt, die Zähne zusammengebissen und gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Oh Gott, nein. Ich bin wieder da .
In der wirklichen Welt.
Dreieinhalb Stunden. Nur dreieinhalb Stunden …
Das war alles, was der Traumerzeuger ihm gewährte. Auf die Schlafphasen eins bis vier entfielen jeweils zehn Minuten. Für den REM-Schlaf gab es dreißig, da sich der Traumzustand nicht weiter komprimieren ließ. Ein siebzig Minuten langer Zyklus, der jede Nacht dreimal wiederholt wurde.
Du könntest dich selbstständig machen. Alle anderen tun das auch .
Als Selbstständiger konnte man sich seine Zeit frei einteilen. Angestellten hingegen – den wenigen, die es noch gab – wurde ihr Zeitplan vorgeschrieben. Yves Scanlon war ein Angestellter. Er musste sich ständig von Neuem die Vorteile vor Augen führen: Man musste sich nicht alle sechs Monate um einen neuen Auftrag bemühen. Stattdessen genoss man eine gewisse Stabilität. Wenn man seine Arbeit machte. Und zwar zuverlässig. Was natürlich bedeutete, dass sich Yves Scanlon die neuneinhalb Stunden Nachtschlaf, die für seine Spezies optimal waren, nicht leisten konnte.
Es galt also Knechtschaft im Austausch für Sicherheit. Es verging nicht ein Tag, an dem er seine Entscheidung nicht bereut hätte. Irgendwann würde seine Abneigung vielleicht sogar stärker werden als seine Furcht vor der Alternative.
»Siebzehn Einträge mit hoher Priorität«, teilte ihm sein Rechner mit, als seine Füße den Boden berührten. »Vier Sendungen, zwölf Netzeinträge, ein Anruf. Sendungen und Anruf sind sauber. Netzeinträge wurden bei Eingang desinfiziert, mit einer vierzigprozentigen Wahrscheinlichkeit, dass verschlüsselte Viren durchgerutscht sind.«
»Verstärke die Desinfektionswirkung«, sagte Scanlon.
»Dadurch würden sämtliche verschlüsselte Viren zerstört werden, es könnten jedoch auch bis zu fünf Prozent der echten Daten vernichtet werden. Ich könnte die gefährlichen Dateien auch einfach löschen.«
»Desinfiziere sie. Was ist auf der mittleren Liste?«
»Achthundertdreiundsechzig Einträge. Dreihundertsiebenundzwanzig Send…«
»Alle löschen.« Scanlon ging in Richtung Bad und blieb plötzlich stehen. »Moment mal. Spiel mir den Anruf vor.«
»Hier ist Patricia Rowan«, sagte der Rechner mit kalter, barscher Stimme. »Wir sehen uns möglicherweise einigen Personalproblemen beim Tiefseegeothermal-Programm gegenüber. Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen. Ihr Rückruf wird direkt an mich weitergeleitet.«
Mist . Rowan war eines der ganz hohen Tiere an der Westküste. Seit er bei der Netzbehörde angefangen hatte, hatte sie ihn kaum zur Kenntnis genommen. »Besitzt dieser Anruf eine Prioritätsstufe?«, fragte Scanlon.
»Wichtig, aber nicht dringend«, erwiderte der Rechner.
Er könnte also erst noch frühstücken und vielleicht seine Post durchsehen. Er könnte all die Reflexe ignorieren, die ihn dazu drängten, alles stehen und liegen zu lassen und wie eine abgerichtete Robbe sofort Gewehr bei Fuß zu stehen. Sie brauchten ihn für etwas. Das wurde aber auch Zeit. Es war, verdammt noch mal, überfällig.
»Ich gehe duschen«, teilte er dem Rechner trotzig, wenn auch ein wenig zögerlich mit. »Ich wünsche keine Störung, bis ich fertig bin.«
Seinen Reflexen gefiel das überhaupt nicht.
»… dass die ›Heilung‹ von Menschen mit multipler Persönlichkeitsstörung einem Serienmord gleichkommt. Das Thema ist noch immer umstritten, da das menschliche Gehirn nach neuesten Erkenntnissen bis zu einhundertvierzig voll entwickelte Persönlichkeiten enthalten kann, ohne dass damit sensorische oder motorische Einschränkungen verbunden wären. Der Gerichtshof wird außerdem erwägen, ob die Unterstützung der freiwilligen Reintegration einer multiplen Persönlichkeit – ebenfalls eine traditionelle Behandlungsmethode – nicht mit Sterbehilfe
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