Abgrund: Roman (German Edition)
knapp zehn Meter pro Sekunde zurück – für ein U-Boot nicht weiter bemerkenswert, doch dieses Ding befindet sich so dicht über dem Meeresboden, dass es fast so scheint, als würde es sich mithilfe von Rädern fortbewegen. Sechshundert Meter von der Station entfernt, überquert es eine kleine Dehnungszone und bleibt stehen.
»Was ist passiert?«, fragt Lenie Clarke.
Alice Nakata dreht an der Bildschärfe. Das unbekannte Objekt kriecht langsam weiter vorwärts und bewegt sich nun mit weniger als einem Meter pro Sekunde am Rand der Dehnungszone entlang.
»Es frisst«, sagt Nakata. »Polymetallische Sulfide vielleicht.«
Clarke denkt darüber nach. »Ich würde es mir gern genauer ansehen.«
»Ja. Soll ich die Netzbehörde informieren?«
»Warum?«
»Das ist wahrscheinlich ein ausländisches U-Boot. Womöglich besitzt es keine Erlaubnis.«
Clarke wirft ihr einen Blick zu.
»Das unbefugte Eindringen in unsere Hoheitsgewässer kann Geldstrafen nach sich ziehen«, sagt Nakata.
»Also wirklich, Alice.« Clarke schüttelt den Kopf. »Wen interessiert das?«
Lubin ist nicht zu sehen, wahrscheinlich schläft er irgendwo am Meeresboden. Sie hinterlassen ihm eine Nachricht. Brander und Caraco sind draußen, um die Träger an Nummer sechs zu reparieren; ein leichtes Beben hat während der letzten Schicht einen Riss im Gehäuse verursacht, worauf zwei Tonnen Schlamm und Sand in die Anlage eingedrungen sind. Allerdings sind die anderen Generatoren mehr als ausreichend, um die Verluste auszugleichen. Brander und Caraco schnappen sich ihre Tintenfische und schließen sich der Parade an.
»Wir sollten unsere Lichter dimmen«, ertönt Nakatas surrende Stimme, als sie den Schlund verlassen. »Und uns dicht am Meeresboden halten. Womöglich verscheuchen wir es sonst.«
Sie regeln ihre Lampen bis auf ein schwaches Glühen herunter und schwimmen durch eine Dunkelheit, die selbst für die Augen eines Rifters nahezu undurchdringlich ist. Caraco schließt zu Clarke auf. »Ich werde nachher mal in die blaue Wildnis dort draußen hinausschwimmen. Wollen Sie mitkommen?«
Ein Schaudern der Abscheu durchläuft Clarkes Körper, doch es stammt nicht von ihr, sondern von Nakata. Bis vor zwei Wochen hat Nakata Caraco noch auf ihrer täglichen Spritztour an der Sendeleitung der Station entlang nach oben begleitet. Irgendetwas muss jedoch in der Echostreuschicht geschehen sein – offenbar nichts Schlimmes, doch es hat dazu geführt, dass Alice allein die Vorstellung, zur Oberfläche aufzusteigen, inzwischen mit Widerwillen erfüllt. Seither versucht Caraco ständig die anderen davon zu überzeugen, sie begleiten zu müssen.
Clarke schüttelt den Kopf. »Hatten Sie denn noch nicht genug Bewegung, als Sie den ganzen Dreck aus Nummer sechs herausgesaugt haben?«
Caraco zuckt die Achseln. »Da sind andere Muskelgruppen im Einsatz.«
»Wie weit steigen Sie inzwischen auf?«
»Etwa bis auf tausend Meter Tiefe. Noch ein weiterer Monat, und ich schwimme ganz bis zur Oberfläche.«
Ein Geräusch ist um sie herum lauter geworden, so allmählich, dass Clarke nicht sagen könnte, wann sie es zum ersten Mal bemerkt hat. Ein mechanisches Brummen und das ferne Knacken von Felsgestein, das zwischen großen Backenzähnen zermalmt wird.
Ein nervöses Flackern wandert in der Gruppe hin und her. Clarke versucht sich zu beherrschen. Sie weiß, was sie erwartet, sie alle wissen es, und es ist nicht annähernd so gefährlich wie die Risiken, denen sie sich jeden Tag während der Schichten aussetzen. Es ist überhaupt nicht gefährlich …
– es sei denn, es hat Abwehrmechanismen, von denen wir nichts wissen –
… doch dieses Geräusch, die schiere Größe des Dings auf der Anzeige … Wir haben alle Angst. Wir wissen, dass es keinen Grund dafür gibt, doch wir hören nur diese Zähne, die in der Dunkelheit aufeinanderknirschen …
Es ist schon schwierig genug, mit ihrer eigenen angeborenen Furcht fertig zu werden. Darüber hinaus auch noch die aller anderen zu spüren, macht die Sache nicht unbedingt einfacher.
Ein schwacher Impuls der Überraschung von Brander an der Spitze. Dann von Nakata hinter ihm, einen Augenblick bevor Clarke selbst einen leichten Strudel spürt. Caraco, die bereits vorgewarnt ist, strahlt hingegen kaum eine Empfindung aus, als die Welle sie erreicht.
Die Dunkelheit ist Stück für Stück immer undurchdringlicher geworden und das Wasser zähflüssiger. Sie befinden sich in einem Strom, der halb aus Schlamm, halb aus
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