Abgrund: Roman (German Edition)
weiß, dass es keine Frage ist – »ein Scheusal bleibe.«
»Sei kein Idiot. Ich musste mich in meinem Leben schon mit genug Arschlöchern herumschlagen, glaub mir. Aber, Karl, das ist nur ein billiger Trick. Wenn du aus der magischen Kammer heraustrittst, bist du der nette Typ. Wenn du dich wieder in sie hineinbegibst, verwandelst du dich in einen Massenmörder. Das ist nicht echt.«
»Woher willst du das wissen?«
Sie bleibt auf Abstand, denn plötzlich kennt sie die Antwort. Es ist nur echt, wenn es wehtut. Wenn es langsam und schmerzhaft geschieht und jeder Schritt von Schreien und Drohungen und Schlägen begleitet ist.
Es ist nur echt, wenn Lenie Clarke ihn dazu bringen kann, sich zu verändern.
Natürlich sagt sie ihm das nicht. Doch als sie sich umdreht und ihn zurücklässt, befürchtet sie, dass sie es ihm gar nicht sagen muss.
Sie wacht augenblicklich auf, angespannt und auf der Hut. Um sie herum herrscht Dunkelheit – die Lichter sind aus, sie hat sogar die Anzeigen an der Wand ausgeschaltet –, doch es ist die enge, vertraute Dunkelheit ihrer Kabine. Etwas klopft gegen die Hülle, stetig und drängend.
Von außen.
Im Korridor ist es für die Augen eines Rifters hell genug. Nakata und Caraco stehen reglos im Aufenthaltsraum. Brander sitzt an der Bibliothek; die Bildschirme sind dunkel, die Headsets hängen an ihren Haken.
Das Geräusch hallt durch den Aufenthaltsraum, schwächer als zuvor, doch immer noch deutlich hörbar.
»Wo ist Lubin?«, fragt Clarke leise. Nakata neigt den Kopf in Richtung der Hülle: Irgendwo dort draußen .
Clarke steigt nach unten und geht in die Luftschleuse.
»Wir dachten, du hättest den Verstand verloren«, sagt sie. »So wie Fischer.«
Sie schweben zwischen Beebe und dem Meeresboden. Clarke streckt den Arm nach ihm aus. Acton ergreift ihre Hand.
»Wie lange ist es her?« Die Worte klingen wie schwache metallische Seufzer.
»Sechs Tage. Vielleicht sogar sieben. Ich habe es immer wieder vor mir her geschoben … Ersatz anzufordern.«
Er gibt keine Antwort.
»Wir haben dich hin und wieder auf dem Echolot gesehen«, fügt sie hinzu. »Eine Zeitlang. Dann bist du verschwunden.«
Schweigen.
»Hast du dich verirrt?«, fragt sie nach einer Weile.
»Ja.«
»Aber jetzt bist du zurückgekehrt.«
»Nein.«
»Karl …«
»Ich will, dass du mir etwas versprichst, Lenie.«
»Was denn?«
»Versprich mir, dass du tun wirst, was ich getan habe. Und die anderen auch. Auf dich werden sie hören.«
»Du weißt, dass ich nicht …«
»Fünf Prozent, Lenie. Vielleicht zehn. Wenn ihr es so niedrig einstellt, wird euch nichts passieren. Versprich es mir.«
»Warum, Karl?«
»Weil ich mich nicht völlig geirrt habe. Weil sie sich früher oder später eurer entledigen werden und ihr dann jeden Vorteil gebrauchen könnt.«
»Komm mit hinein. Wir können drinnen darüber reden. Die anderen sind auch alle da.«
»Dort draußen gehen merkwürdige Dinge vor sich, Len. Außerhalb der Reichweite des Echolots. Sie sind … ich weiß nicht, was genau sie da tun. Sie erzählen uns nichts darüber …«
»Komm mit hinein, Karl.«
Er schüttelt den Kopf. Die Geste scheint beinahe ungewohnt für ihn zu sein.
»… kann nicht …«
»Dann erwarte nicht, dass ich …«
»Ich habe in der Bibliothek eine Datei zurückgelassen. Sie erklärt alles. Jedenfalls so viel, wie ich drinnen in Erfahrung bringen konnte. Versprich es mir, Len.«
»Nein. Versprich du mir etwas. Komm mit hinein. Versprich mir, dass wir eine Lösung für das Ganze finden werden.«
»Drinnen sterben zu viele Teile von mir ab«, sagt er mit einem Seufzen. »Ich habe es zu weit getrieben. Etwas ist ausgebrannt. Selbst hier draußen bin ich nicht mehr ganz ich selbst. Aber das wird dir nicht passieren. Fünf oder zehn Prozent, mehr nicht.«
»Ich brauche dich«, ertönt ihre surrende Stimme, sehr ruhig.
»Nein«, sagt er. »Du brauchst Karl Acton.«
»Was soll das heißen?«
»Du brauchst, was er dir angetan hat.«
Alle Wärme schwindet aus ihrem Körper. Es bleibt nur noch ein flaues, eisiges Brodeln.
»Was soll das sein, Karl? Eine großartige Erleuchtung, die dir beim Schlafwandeln im Schlamm gekommen ist? Glaubst du, mich besser zu kennen, als ich mich selbst kenne?«
»Du weißt …«
»Weil das nämlich nicht stimmt. Du weißt überhaupt nichts über mich. Du hast nie etwas gewusst. Und du hast nicht den Mut, mich wirklich kennenzulernen, deshalb flüchtest du dich in die Dunkelheit, und wenn du
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