Abgrund: Roman (German Edition)
erreichen?«
Wieder dieses mechanische Lachen. »Es geht um etwas, das ich einmal gelesen habe. Ich dachte …«
Seine Wange streift die ihre.
»Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Drinnen verwandle ich mich in einen Wahnsinnigen. Mir kommen all diese blödsinnigen Ideen, und selbst wenn ich wieder rauskomme, dauert es eine Weile, bevor ich wirklich aufwache und mir klar wird, was für ein Idiot ich gewesen bin. Ich wollte mir eine Adrenaldrüse im Nebennierenmark anschauen. Ich dachte, ich könnte dadurch vielleicht herausfinden, was man gegen den Ionenschwund an den synaptischen Verknüpfungen tun kann.«
»Du weißt, was man dagegen tun kann.«
»Naja, das war sowieso alles Schwachsinn. Ich kann da drinnen einfach keinen klaren Gedanken fassen.«
Sie macht sich nicht einmal die Mühe, mit ihm darüber zu streiten.
»Es tut mir leid«, ertönt Actons surrende Stimme nach einer Weile.
Clarke streichelt ihm über den Rücken. Es fühlt sich an, als würden zwei Plastikfolien übereinanderreiben.
»Ich denke, ich kann es dir erklären«, fügt er hinzu. »Wenn es dich interessiert.«
»Klar.« Doch sie weiß, dass sich dadurch nichts ändern wird.
»Du weißt, dass es da dieses Areal in deinem Gehirn gibt, das für die Motorik zuständig ist?«
»Ja.«
»Und wenn du, sagen wir mal, eine Konzertpianistin wärst, würde der Bereich, der für die Bewegung deiner Finger zuständig ist, sich ausweiten und eine größere Fläche des Areals einnehmen, weil dort ein erhöhter Bedarf an Beweglichkeit besteht. Doch zugleich verlierst du dabei andere Dinge. Die angrenzenden Bereiche des Areals werden zurückgedrängt. Möglicherweise kannst du also hinterher nicht mehr so gut mit den Zehen wackeln oder deine Zunge einrollen.«
Acton verstummt. Clarke spürt seine Arme, die sich von hinten locker um sie legen.
»Ich glaube, mit mir ist auch so etwas geschehen«, sagt er nach einer Weile.
»Wie meinst du das?«
»Ich glaube, etwas in meinem Gehirn ist stärker geworden, hat sich ausgeweitet und andere Teile verdrängt. Aber es funktioniert nur bei hohem Umgebungsdruck, verstehst du? Durch den Druck feuern die Nerven schneller. Wenn ich also wieder in die Station gehe, wird dieser neue Teil inaktiv und die alten Teile sind … nun ja, nicht mehr da.«
Clarke schüttelt den Kopf. »Das haben wir doch schon einmal geklärt, Karl. Deinen Synapsen hat es einfach an Kalzium gefehlt.«
»Das ist nicht alles, was geschehen ist. Inzwischen ist das nicht einmal mehr ein Problem. Ich habe meine Inhibitoren wieder hochgeregelt. Nicht ganz bis zum Normalwert, aber hoch genug. Aber dieser neue Teil ist immer noch da, und die alten bleiben verschwunden.« Sie spürt sein Kinn, das auf ihrem Scheitel ruht. »Ich glaube, dass ich nicht mehr ganz menschlich bin, Len. Aber wenn man bedenkt, was für ein Mensch ich gewesen bin, ist das wahrscheinlich kein Verlust.«
»Und was genau hat er für eine Funktion, dieser neue Teil?«
Es dauert eine Weile, bis er antwortet. »Es ist beinahe wie ein neues Sinnesorgan, nur dass es sehr … ungenau ist. Man könnte es Eingebung nennen, aber es ist ein wenig greifbarer.«
»Ungenau, aber greifbar?«
»Ja. Das ist das Problem, wenn man versucht, jemandem, der keine Nase hat, zu erklären, wie der Geruchssinn funktioniert.«
»Vielleicht ist es nicht das, was du denkst. Ich meine, etwas hat sich verändert, aber das bedeutet nicht, dass du … einfach in andere Menschen hineinschauen kannst. Vielleicht ist es nur eine Art seelische Verstimmung. Oder eine Halluzination. Das kannst du nicht wissen.«
»Ich weiß es, Len.«
»Dann hast du recht.« Wut steigt aus ihrem inneren Speicher hoch. »Dann bist du nicht mehr menschlich. Du bist weniger als ein Mensch.«
»Lenie …«
»Menschen müssen einander vertrauen, Karl. Sich auf etwas zu verlassen, das man sicher weiß, kostet wenig Anstrengung. Ich will, dass du mir vertraust.«
»Aber nicht, dass ich dich wirklich kennenlerne.«
Sie versucht, in dieser synthetischen Stimme Trauer auszumachen. Im Innern der Station wäre ihr das vielleicht gelungen. Doch im Innern der Station hätte er niemals so etwas gesagt.
»Karl …«
»Ich kann nicht mehr zurückkehren.«
»Hier draußen bist du nicht mehr du selbst.« Sie stößt sich von ihm ab und dreht sich herum. Undeutlich kann sie seine Silhouette erkennen.
»Du willst, dass ich …« – selbst durch den Stimmwandler hindurch kann sie die Verwirrung in seinen Worten hören, doch sie
Weitere Kostenlose Bücher