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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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zurückkommst, spuckst du diesen ganzen prätentiösen Schwachsinn aus.« Sie will ihn provozieren, das weiß sie, doch er reagiert einfach nicht darauf. Selbst einer seiner Wutausbrüche wäre besser als das hier.
    »Es ist unter ›Schatten‹ abgespeichert«, sagt er.
    Sie starrt ihn an, ohne etwas zu sagen.
    »Die Datei«, fügt er hinzu.
    »Was ist los mit dir?« Sie prügelt auf ihn ein, schlägt so fest zu, wie sie kann, doch er schlägt nicht zurück. Er wehrt sich nicht einmal, verdammt noch mal, warum wehrst du dich nicht, du Arschloch? Warum bringst du es nicht einfach hinter dich, verprügelst mich, bis die Schuld uns beide einhüllt und wir einander versprechen, es nie wieder zu tun und …
    Doch selbst ihre Wut verlässt sie jetzt. Der Schwung ihres Angriffs lässt Acton und sie auseinanderdriften. Sie hält sich an einer Verankerungsleine fest. Ein Seestern, der die Leine umklammert hält, streckt blind einen Arm aus, um sie mit der Spitze zu berühren.
    Acton treibt weiter davon.
    »Bleib bei mir«, sagt sie.
    Er hält inne und tritt auf der Stelle Wasser, ohne ihr zu antworten, verschwommen, grau und in weiter Ferne.
    Hier draußen ist ihr so vieles verwehrt. Sie kann nicht weinen. Sie kann nicht einmal die Augen schließen. Also blickt sie auf den Meeresboden hinab und betrachtet ihren eigenen Schatten, der sich in der Dunkelheit verliert. »Warum tust du das?«, sagt sie erschöpft und fragt sich, an wen die Frage wohl gerichtet ist.
    Sein Schatten berührt den ihren. Eine mechanische Stimme antwortet ihr:
    »So macht man das, wenn man jemanden wirklich liebt.«
    Sie reißt den Kopf hoch und sieht ihn gerade noch verschwinden.

    Als sie zurückkehrt, herrscht Stille in der Station. Das nasse Klatschen ihrer Füße auf dem Deck ist das einzige Geräusch, das sie hört. Sie steigt in den Aufenthaltsraum hoch und stellt fest, dass er leer ist. Sie macht einen Schritt auf den Korridor zu, der zu ihrer Kabine führt.
    Und bleibt stehen.
    In der Kommunikationszentrale ist ein leuchtendes Icon zu sehen, das langsam auf den Schlund zuwandert. Doch die Anzeige trügt; in Wirklichkeit ist Acton dunkel und matt und leuchtet ebenso wenig wie sie.
    Sie fragt sich erneut, ob sie versuchen soll, ihn aufzuhalten. Mit reiner Körperkraft kann sie ihn nicht überwältigen, aber vielleicht hat sie einfach noch nicht das Richtige gesagt. Womöglich kann sie ihn zurückrufen, ihn durch Worte allein dazu bewegen, zurückzukehren. Du bist kein Opfer mehr, hat er einmal zu ihr gesagt. Vielleicht ist sie stattdessen eine Sirene.
    Doch ihr fällt nichts ein, was sie zu ihm sagen könnte.
    Er ist beinahe angekommen. Sie sieht ihn zwischen großen bronzefarbenen Säulen dahingleiten, während in seinem Kielwasser Bakteriennebel aufgewirbelt werden. Sie stellt sich sein Gesicht vor, das forschend zu Boden blickt, unbarmherzig und hungrig. Sie sieht, wie er sich auf das Nordende der Hauptstraße zubewegt.
    Sie schaltet die Anzeige aus.
    Sie muss nicht zuschauen. Sie weiß, was passiert, und die Maschinen werden ihr mitteilen, wenn es vorbei ist. Sie könnte sie nicht daran hindern, selbst wenn sie es wollte. Es sei denn, sie hackt sie in Stücke. Das würde sie auch am liebsten tun, doch sie beherrscht sich. Reglos wie ein Stein sitzt Lenie Clarke in der Befehlszentrale, starrt auf den leeren Bildschirm und wartet auf das Alarmsignal.

Nekton

Landratte

Kaltstart
    E r träumte von Wasser. Er träumte immerfort von Wasser. Vom Gestank toter Fische in verrottenden Netzen und bunt schillernden Benzinpfützen an der Landebrücke in Steveston und einem Haus, so nah an der Küste, dass man kaum eine Versicherung dafür bekam. Er träumte von einer Zeit, als der Begriff »Meeresufer« noch etwas bedeutete, selbst der schlammige braune Streifen, wo sich der Fraser in die Straße von Georgia ergoss. Seine Mutter stand über ihm und strahlte. Ein ökologisch wertvolles Gebiet, Yves. Ein Sammelplatz für Zugvögel. Ein Filter für die ganze Welt. Und der kleine Yves Scanlon erwiderte ihr Lächeln, stolz darauf, dass er als Einziger von seinen Freunden – nun, eigentlich waren es gar nicht seine Freunde, aber vielleicht würden sie das ja jetzt werden – die Natur hautnah erleben durfte, hier in seinem neuen Hinterhof. Anderthalb Meter über der Hochwasserlinie.
    Und dann trat wie immer die Realität die Türen ein und versetzte seiner Mutter mitten im Lächeln den tödlichen Stromstoß.
    Manchmal konnte er das Unvermeidliche

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