Abgrund: Roman (German Edition)
passiert?«, fragt Lubin. »In Ihrer Nachricht haben Sie etwas von einem Schlammwühler geschrieben.«
»Er ist entkommen«, sagt Caraco.
»Er war nicht glücklich«, wiederholt Nakata.
»Tatsächlich?«
»Alice hat irgendetwas gespürt«, sagt Caraco. »Lenie und ich auch.«
»Schlammwühler sind unbemannt«, stellt Lubin fest.
»Es war niemand an Bord«, sagt Nakata. »Jedenfalls kein Mensch. Aber …« Sie verstummt.
»Ich habe es gespürt«, sagt Clarke. »Es war lebendig.«
Lenie Clarke liegt in ihrer Koje, wieder allein. Wahrhaft allein. Sie kann sich erinnern, dass sie diese Einsamkeit vor gar nicht so langer Zeit genossen hat. Wer hätte gedacht, dass sie Gefühle vermissen würde?
Selbst wenn es die von jemand anderem sind .
Und dennoch stimmt es. Jedes Mal, wenn sie in die Station zurückkehrt, fällt ein bedeutender Teil von ihr ab wie ein Traum, an den sie sich nur noch vage erinnern kann. Das Wasser strömt aus der Luftschleuse, ihr Körper füllt sich mit Luft, und ihr Bewusstsein wird flach und trübe. Die anderen verschwinden einfach. Es ist seltsam; sie kann sie sehen und hören wie immer. Doch wenn sie sich nicht bewegen und Clarke die Augen schließt, weiß sie nicht mehr, ob sie noch da sind.
Jetzt ist sie wieder auf sich allein gestellt und muss nur noch ihre eigenen Signale verarbeiten. Nichts stört sie mehr.
Mist .
Blind oder nackt. Das war die Wahl, die sich ihr bot. Die Entscheidung ist ihr nicht leicht gefallen. Natürlich ist es meine eigene Schuld. Ich habe es förmlich herausgefordert.
Das stimmt tatsächlich. Sie hätte das Ganze einfach auf sich beruhen lassen und Actons Datei still und heimlich löschen können, ehe die anderen sie fanden. Doch sie hatte das Gefühl, als sei sie ihm etwas schuldig. Diesem Geist des Dings Draußen, diesem Ding, das nicht knurrte oder ihr Vorwürfe machte oder sie verprügelte, diesem Ding, das endlich das Ding Drinnen vertrieben hatte, so dass es ihr nicht mehr wehtun konnte. Ein Teil von Lenie Clarke hasst Acton immer noch dafür, auf einer verrückten Ebene ihres Bewusstseins, wo die Reflexe das Sagen haben. Doch selbst dieser Teil von ihr ist sich beinahe sicher, dass er es für sie getan hat. Ob es ihr nun gefällt oder nicht, sie ist ihm etwas schuldig.
Also hat sie ihre Schuld beglichen. Sie hat die anderen in die Station gerufen und ihnen die Datei vorgespielt. Sie hat ihnen gesagt, was Acton ihr bei ihrem letzten Treffen erzählt hatte, und sie nicht darum gebeten, sein Angebot auszuschlagen, obwohl sie verzweifelt hoffte, dass sie das tun würden. Wenn sie sie darum gebeten hätte, hätten sie vielleicht sogar auf sie gehört. Doch einer nach dem anderen öffneten sie ihre Brust und nahmen die Veränderungen vor. Mike Brander aus Neugier. Judy Caraco aus Skepsis. Alice Nakata, weil sie nicht aus der Gruppe ausgeschlossen sein wollte. Ken Lubin ohne Erfolg, aus Gründen, die er für sich behielt.
Sie presst die Augenlider zusammen und erinnert sich, wie sich von einem Tag auf den anderen die Regeln geändert haben. Das sorgfältig gehütete Äußere spielte plötzlich keine Rolle mehr. Die leeren Augen und Ninja-Masken waren nur noch oberflächliches Gehabe und konnten ihnen nicht mehr als Schutzpanzer dienen. Wie fühlst du dich, Lenie Clarke? Geil, gelangweilt, verärgert? Das lässt sich ganz leicht feststellen, obwohl deine Augen hinter dieser undurchsichtigen Hornhaut verborgen sind. Du könntest völlig außer dir sein. Du könntest dir vor Angst in die Taucherhaut pissen, und jeder würde es bemerken.
Warum hast du es ihnen gesagt? Warum nur? Warum hast du es ihnen, verdammt noch mal, gesagt?
Draußen hat sie gesehen, wie die anderen sich verändert haben. Sie bewegten sich um sie herum, ohne etwas zu sagen, gingen einander wie selbstverständlich zur Hand oder reichten sich Gegenstände. Wenn Clarke etwas von einem von ihnen brauchte, gab er es ihr, bevor sie etwas sagen konnte. Wenn die anderen allerdings etwas von ihr haben wollten, mussten sie sie fragen, und die ganze Choreografie brach in sich zusammen. Sie fühlte sich wie ein Krüppel in einer Tanzgruppe. Sie wollte gern wissen, wie viel die anderen von ihr wahrnehmen konnten, doch sie wagte nicht zu fragen.
Im Innern der Station versuchte sie es manchmal. Dort war es sicherer. Der Faden, der die anderen miteinander verband, zerfiel unter der Einwirkung der Atmosphäre, und sie waren alle wieder gleich. Brander sagte, er würde durch die Feinabstimmung die
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