Abgrund: Roman (German Edition)

wahrnehmen?« Nakata ist im Allgemeinen etwas sensibler als die anderen.
    »Ich … glaube nicht«, sagt Nakata, doch Clarke spürt ihre Unsicherheit. »Vielleicht kann ich … Es ist eine große Maschine, Lenie. Vielleicht ist der Pilot einfach zu weit entfernt …«
    Brander und Caraco führen irgendetwas im Schilde. Sie sind beide außer Sichtweite – selbst ihre Tintenfische sind nicht mehr zu sehen, weil sie ihnen gefolgt sind, um in Reichweite zu bleiben –, doch immer noch nahe genug, dass Clarke ihre wachsende Spannung spürt. Sie wechselt einen Blick mit Nakata.
    »Wir sollten lieber mal nach ihnen schauen«, sagt Clarke. Die beiden schwimmen über den Schlammwühler nach vorn.
    Kurz darauf tauchen Brander und Caraco vor ihnen auf. Sie kauern zu beiden Seiten einer Metallkuppel, die etwa dreißig Zentimeter Durchmesser besitzt. Mehrere dunkle Fischaugen befinden sich auf ihrer Oberfläche.
    »Kameras?«, fragt Clarke.
    »Nein«, sagt Caraco.
    »Fotozellen«, erklärt Brander.
    Lenie spürt, was die beiden vorhaben. »Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee …?«
    »Es werde Licht!«, ruft Judy Caraco. Lichtstrahlen von ihrer und Branders Stirnlampe durchschneiden das Wasser und ergießen sich in gleißender Helligkeit über die Fischaugen.
    Der Schlammwühler bleibt abrupt stehen. Clarke wird von der Fliehkraft nach vorn getragen; sie hält sich an etwas fest, um ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen, während ihr die unerwartete Stille in den Ohren klingt. Nach dem unablässigen Lärm hat sie nun fast das Gefühl, taub zu sein.
    »Mannomann«, ertönt Branders surrende Stimme in der Stille. Ein Ticken dringt durch die Hülle nach draußen, einmal, zweimal, dreimal.
    Dann setzt sich die Welt ruckartig wieder in Bewegung. Die Landschaft dreht sich um sie herum und wirft sie in einem Wirrwarr aus Gliedmaßen durcheinander. Als sie schließlich die Orientierung wiedergewonnen haben, stellen sie fest, dass sie beschleunigen. Das Brummen hat wieder eingesetzt, diesmal klingt es jedoch anders. Der Schlammwühler kaut nicht mehr träge auf polymetallischen Verbindungen herum, sondern flüchtet sich auf schnellstem Wege in internationale Gewässer. Clarke muss sich mit aller Kraft festhalten.
    »Juchee!«, ruft Caraco.
    »Grelles Licht könnte es erschrecken?«, schreit Brander von irgendwo hinter ihr. »Ich würde sagen, da haben Sie recht gehabt!«
    Starke Empfindungen überall um sie herum. Lenie Clarke klammert sich noch fester und versucht herauszufinden, welche der Empfindungen ihre eigenen sind. Überschwängliche Freude durchsetzt mit nackter, übermütiger Angst – das sind Brander und Caraco. Alice Nakata ist schrecklich aufgeregt, doch in ihre Empfindungen mischt sich noch stärkere Besorgnis. Und dort, kaum erkennbar, beinahe ein Gefühl von … Sie kann es nicht recht einordnen.
    Unzufriedenheit? Trauer?
    Eigentlich nicht.
    Bin ich das? Doch das scheint auch nicht zu stimmen.
    Ein grelles Licht nagelt Clarkes Schatten auf der Hülle fest und verschwindet sogleich wieder. Sie blickt zurück; Brander ist irgendwo über ihr und schaukelt an einer Leine, die durch das Wasser nach oben führt, hin und her – ich hätte schwören können, dass die eben noch nicht da war –, der Lichtstrahl seiner Stirnlampe schwankt wie der Strahl eines verrückten Leuchtturms. Lawinen aus schlammigem Wasser strömen über das Deck, ihre Ränder kräuseln sich wie die Lehrbuchillustration einer Wirbelströmung.
    Caraco stößt sich von der Hülle ab und schießt in das Wasser hinauf. Ihre Silhouette verschwindet in der Dunkelheit, doch ihre Stirnlampe kommt direkt hinter Branders zur Ruhe und hüpft nun dort auf und ab. Clarke blickt zu Nakata hinüber, die sich immer noch an der Hülle festklammert. Nakata ist jetzt ein wenig übel, und sie ist noch besorgter als zuvor …
    »Es ist nicht glücklich!«, ruft Nakata.
    »He, kommt schon ihr Murmeltiere!«, ertönt schwach Caracos surrende Stimme. »Beeilt euch!«
    Unzufriedenheit. Etwas Unerwartetes ist eingetreten .
    Wer ist das?, fragt sich Clarke.
    »Kommt schon!«, ruft Caraco noch einmal.
    Was soll’s. Ich kann mich sowieso nicht mehr länger festhalten. Clarke lässt los und stößt sich ab. Die Oberfläche des Schlammwühlers rast unter ihr vorbei. Das Gewicht des Wassers dämpft ihren Schwung. Sie macht ein paar Schwimmzüge, um an Höhe zu gewinnen, spürt plötzlich hinter ihr Erwartung aufflammen … und im nächsten Augenblick kracht etwas gegen ihren Rücken