Abgrund: Roman (German Edition)
Anwesenheit der anderen stärker wahrnehmen. Caraco verglich es mit der Körpersprache. »Irgendwie gleicht es die Augenkappen wieder aus«, sagte sie und glaubte offenbar, Clarke damit Mut zu machen.
Doch es war Alice Nakata, die schließlich beinahe beiläufig erwähnte, dass die Gefühle anderer Menschen … irgendwie störend sein konnten.
Es ist nun schon eine Weile her, seit Lenie Clarke die Anpassungen vorgenommen hat. Eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Man erhält keine genauen telepathischen Einblicke oder erfährt irgendwelche Geheimnisse. Es ist eher wie ein Phantomschmerz von einem nicht vorhandenen Körperglied, die Urerinnerung an einen Schwanz, den man beinahe spüren kann. Und Clarke weiß jetzt, dass Nakata recht hatte. Außerhalb der Station durchrieseln sie die Gefühle der anderen, überdecken und verwässern ihre eigenen. Manchmal vergisst sie beinahe, dass sie überhaupt eigene Gefühle hat.
Da ist auch noch etwas anderes, ein dunkler Kern in jedem von ihnen, vertraut und zornerfüllt. Das überrascht sie nicht. Sie reden nicht einmal darüber. Genauso gut könnte man sich darüber unterhalten, dass sie alle an jeder Hand fünf Finger haben.
Brander ist in der Bibliothek beschäftigt; Clarke hört Nakata in der Kommunikationszentrale am Telefon.
»Hier steht, dass sie damit angefangen haben, in den Schlammwühlern intelligente Gele zu installieren«, sagt Brander.
»Hmm?«
»Die Datei ist schon ziemlich alt«, gibt er zu. »Es wäre schön, wenn uns die Netzbehörde öfter mal ein paar Downloads schicken würde, zum Teufel mit den Infektionen. Ich meine, schließlich retten wir im Alleingang die ganze westliche Welt vor dem Stromausfall, da könnten sie wenigstens …«
»Die Gele«, warf Clarke ein.
»Richtig. Nun, also, in den Schlammwühlern waren schon immer neuronale Netze im Einsatz, wissen Sie, weil sie sich durch ziemlich unwegsames Gelände bewegen. Haben Sie von den beiden Schlammwühlern gehört, die im Aleutengraben stecken geblieben sind? Jedenfalls ist für die Navigation durch kompliziertes Gelände immer eine Form von Netz notwendig. Normalerweise verwenden sie welche auf der Grundlage von Galliumarsenid. Aber selbst die können dem menschlichen Gehirn nicht das Wasser reichen, was die Orientierung im Raum anbelangt. Für die Navigation in unterseeischen Gebirgen waren sie einfach zu langsam. Also haben sie sie Stück für Stück durch intelligente Gele ersetzt.«
Clarke knurrt. »Alice glaubt, dass sich der Schlammwühler für eine Maschine zu schnell bewegt hat.«
»Wahrscheinlich hat sie recht. Intelligente Gele bestehen aus echten Nervenzellen, deshalb können wir sie vermutlich genauso spüren wie wir uns untereinander. Das würde Ihre Empfindungen erklären … Alice hat gesagt, es sei nicht glücklich gewesen.«
»Stimmt.« Clarke runzelt die Stirn. »Allerdings war es auch nicht unglücklich. Es hat eigentlich gar nichts richtig empfunden. Es war einfach nur … überrascht, könnte man sagen. Als sei etwas … von seinen Erwartungen abgewichen.«
»Verdammt, das habe ich auch gespürt«, sagt Brander. »Aber ich dachte, das seien meine eigenen Empfindungen.«
Nakata tritt aus der Kommunikationszentrale. »Es ist immer noch kein Ersatz für Karl in Sicht. Angeblich haben die neuen Rekruten die Ausbildung noch nicht beendet. Es gab wohl irgendwelche Haushaltskürzungen.«
Inzwischen ist es schon ein fortlaufender Witz. Die neuen Rekruten der Netzbehörde müssen die begriffsstutzigsten Lehrlinge seit der Ausrottung des Down-Syndroms sein. Beinahe vier Monate sind vergangen, und Actons Ersatz ist immer noch nicht aufgetaucht.
Brander macht eine wegwerfende Handbewegung. »Wir kommen auch zu fünft ganz gut zurecht.« Er schaltet die Bibliothek aus und streckt sich. »Übrigens, hat irgendjemand Ken gesehen?«
»Er ist draußen«, sagt Nakata. »Warum?«
»Ich habe die nächste Schicht mit ihm und muss noch eine Zeit festlegen. Sein Tagesrhythmus ist in letzter Zeit ein wenig unregelmäßig.«
»Wie weit ist er draußen?«, fragt Clarke plötzlich.
Nakata zuckt die Achseln. »Vielleicht zehn Meter, als ich das letzte Mal nachgesehen habe.«
Er ist noch in Reichweite. Auch die Feinabstimmung hat ihre Grenzen. Beispielsweise kann man jemanden, der sich im Innern der Station aufhält, nicht mehr spüren, wenn man sich am Schlund befindet. Zehn Meter sind jedoch kein Problem.
»Normalerweise ist er weiter draußen, oder?« Clarke spricht leise, als
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