Abgrund: Roman (German Edition)
befürchte sie, jemand könnte sie belauschen. »Meistens befindet er sich am Rand der Reichweite der Station. Oder er arbeitet an dieser seltsamen Vorrichtung, die er sich da zusammengebastelt hat.«
Sie wissen nicht, warum sie Lubin nicht spüren können. Er sagt, er könne sie genauso wenig wahrnehmen. Vor etwa einem Monat hat Brander einmal vorgeschlagen, eine NMR-Untersuchung durchzuführen, doch Lubin hat abgelehnt. Er wirkte freundlich, doch etwas an seinem Tonfall klang so sonderbar, dass Brander das Thema nie wieder angesprochen hat.
Brander richtet die Augenkappen auf Clarke, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht. »Ich weiß nicht, Len. Wollen Sie ihn vielleicht der Lüge bezichtigen?«
Sie antwortet nicht.
»Ach ja.« Nakata durchbricht das Schweigen, bevor es zu unangenehm wird. »Da ist noch etwas. Bis unser Ersatz eintrifft, schicken sie jemanden runter, um eine … Routinebewertung durchzuführen, wie sie es genannt haben. Diesen Arzt, der – Sie wissen schon …«
»Scanlon.« Lenie gibt sich Mühe, nicht verächtlich zu klingen.
Nakata nickt.
»Wozu, zum Teufel?«, knurrt Brander. »Reicht es nicht, dass wir unterbesetzt sind, müssen wir jetzt auch noch stillhalten, während Scanlon erneut an uns herumdoktert?«
»Angeblich ist es nicht wie bei der Ausbildung. Er soll uns nur während der Arbeit beobachten.« Nakata zuckt die Achseln. »Sie behaupten, es sei eine routinemäßige Untersuchung. Keine Befragungen, keine psychiatrischen Sitzungen oder Ähnliches.«
Caraco schnaubt spöttisch. »Das will ich doch hoffen. Lieber lasse ich mir auch noch meinen zweiten Lungenflügel herausnehmen, als dass ich noch einmal ein Gespräch mit diesem Arschloch führe.«
»›Sie wurden also mehrfach von einem abgerichteten Dobermann bestiegen, während ihre Mutter dafür Eintritt verlangt hat‹«, sagt Brander in einer überzeugenden Nachahmung von Scanlons Stimme. »›Und was genau haben Sie dabei empfunden? ‹«
»›Eigentlich bin ich eher so etwas wie ein Mechaniker ‹«, greift Caraco den Faden auf. »Hat er das auch zu Ihnen gesagt?«
»Auf mich machte er eigentlich einen ganz netten Eindruck«, wirft Nakata zögerlich ein.
»Na, das gehört ja auch zu seinem Beruf: einen netten Eindruck zu machen.« Caraco verzieht das Gesicht. »Es gelingt ihm nur einfach nicht besonders gut.« Sie sieht zu Clarke hinüber. »Also, was denken Sie, Len?«
»Ich finde, er hat sich immer zu sehr angebiedert«, sagt Clarke nach einer Weile.
»Nein, ich meine, was sollen wir tun?«
Ein wenig verärgert zuckt Clarke die Achseln. »Warum fragen Sie mich?«
»Er sollte mir besser nicht in die Quere kommen, der kleine, fette Scheißer.« Brander sieht mit leerem Blick zur Decke hoch. »Warum kann nicht jemand mal ein intelligentes Gel erfinden, um ihn zu ersetzen?«
Schrei
OFFI/ÜBERTR/210850:2132
Dies ist meine zweite Nacht in der Station. Ich habe die Teilnehmer darum gebeten, in meiner Gegenwart ihr Verhalten nicht zu ändern, da es meine Aufgabe ist, die routinemäßigen Arbeitsabläufe in der Station zu beobachten. Es freut mich, mitteilen zu können, dass alle Anwesenden meiner Bitte nachkommen. Das ist sehr erfreulich, da sich dadurch »Beobachtereffekte« reduzieren lassen. Es kann jedoch auch zu Problemen führen, weil die Rifter keinem verlässlichen Zeitplan folgen. Das macht es schwieriger, die Beobachtungszeit zu planen, und es gibt sogar einen Arbeiter – Ken Lubin –, den ich seit meiner Ankunft hier noch nicht zu Gesicht bekommen habe. Allerdings steht mir viel Zeit zur Verfügung.
Im Allgemeinen sind die Rifter recht schweigsam und verschlossen – ein Laie würde sie vielleicht als mürrisch bezeichnen –, doch das entspricht in jeder Hinsicht dem Profil. Die Station selbst scheint in gutem Zustand zu sein und funktioniert tadellos, auch wenn ihre Insassen sich nicht immer an die Standardprotokolle halten.
Wenn in der Station Beebe die Lichter ausgehen, hört man nichts mehr.
Yves Scanlon liegt in seiner Koje und lauscht nicht. Er hört keine merkwürdigen Geräusche, die durch die Hülle hereindringen. Da ist kein hohes, geisterhaftes Pfeifen, das vom Meeresboden ausgeht, kein leise heulender Wind, denn er weiß, dass es hier unten keinen Wind gibt. Bestimmt ist das alles nur Einbildung. Ein Trick des Hirnstamms, eine Halluzination des Gehörs. Er ist nicht im Geringsten abergläubisch, schließlich ist er Wissenschaftler. Er hört nicht den Geist von Karl Acton auf dem
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