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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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(es geht also gar nicht um die
Nerven, denke ich).
    Laufen, das ist ein weiterer
Grundsatz, ist absolut verboten, egal, was passiert, egal, wie rasch sich die Cafeteria
füllt, man darf höchstens schnell gehen (zackig, aber nicht überhastet, flink,
aber niemals übereilt), eine Kellnerin, die rennt, hat bereits etwas verpasst,
ist schon zu spät (wir müssen den Gästen das Gefühl geben, dass uns unsere
Arbeit leicht fällt, versteht ihr?), und ich, die versteht, versuche, um neun
Uhr den Überblick nicht zu verlieren, elegant beiläufig den Kaffee zu
servieren, einzukassieren, die Gäste nicht zu drängen (auch wenn wir nicht mehr
wissen, wo uns der Kopf steht), und Nomi übernimmt die Tische bei der Theke,
die Strumpfhose übt einen unangenehmen Druck auf meine Schenkel aus, Nomi, die
mir zu verstehen gibt, dass wir alles im Griff haben, um halb zehn wird der
Spuk vorbei sein, mein Blick zur Wanduhr, und es ist nicht wahr, dass die Zeit
schnell vergeht, wenn man viel zu tun hat, Nomi und ich, die genau wissen, dass
die Zeit zwischen neun und halb zehn in einzelne, endlos lange Minuten zerfällt
und wie viele Blicke, Hände, Krawatten, Blusen, Eheringe, Turmfrisuren,
Glatzen, Zigarettenmarken, Duftnoten, Titelseiten, Schlagzeilen man in einer
halben Stunde aufnehmen kann oder zumindest mit dem Blick streifen kann.
    Du, wie sich die auf dem
Balkan die Köpfe einschlagen, und die Serben, das ist eine ganz schön kriegerische
Meute, die sind wie die Hyänen (Herr Pfister, der Umzüge organisiert, weltweit,
auch nach Übersee, der sich mit seinem Freund unterhält), Sie haben eine helle
Schale bestellt, oder? Ja, danke schön, und wie heisst der Serbenführer in
Bosnien? Ah ja, Mladic, genau, danke, Fräulein, der und Milosevic, die sind
noch schlimmer als echte Nazis, glaub mir.
    Frau Müller, Frau Zwicky, Herr
Pfister, Herr Walter, Frau Hungerbühler, Herr und Frau Schilling, der Lehrer,
die Kassiererin, der Gärtner vom Nachbarsdorf, die Coiffeuse, die bis anhin
den Kaffee bei der Konkurrenz getrunken hat, die Postbeamten, die Bauarbeiter,
sie alle wollen einen Kaffee und möglicherweise etwas dazu, möchten Sie etwas
dazu, etwas Süsses oder etwas Salziges?
    Und stimmt es eigentlich, dass
Milosevic' Vater Schuhmacher war?
    Es ist nicht wahr, dass die
Zeit schnell vergeht, je schneller man arbeitet, desto langsamer vergeht die
Zeit, ja, Frau Wittelsbacher, ich komme gleich, und es ist eine Kunst, alles
reibungslos hinzukriegen, so zu arbeiten, dass alles läuft wie geschmiert,
Tisch zwei und drei wollen zahlen, sagt Nomi (ja sofort, ich komme gleich), ein
Spezialwunsch, der einen auch zwischen neun und zehn nicht aus dem Konzept
bringen darf (ja, selbstverständlich!), der Schnabelkragen meiner
umständlichen Bluse, der sich bei jedem Schritt bemerkbar macht (finden Sie?,
danke!, ja stimmt, das ist eine Farbe, die ich sonst nicht trage), Nomi, die
mir wieder ein Glas Wasser hinstellt, Frau Hungerbühler, die ihren zweiten
Schuh sucht, sie hüpft mit einem Schuh zur Theke, sagt, die Kinder hätten ihren
zweiten Schuh gestohlen, die Rotzgören, wo sind sie?, ich, die unter die
gepolsterte Sitzbank kriecht, um Frau Hungerbühlers zweiten Schuh zu finden
(und das alles zwischen neun und halb zehn), den dunkelblauen Halbschuh, der
geduldig im hintersten Eck auf Frau Hungerbühlers Fuss wartet, auf meine Hand,
die Frau Hungerbühler ihren Schuh überreicht, vielen Dank, herzlichen Dank, und
was kann ich Ihnen dafür geben? (eine weitere Regel, die man nicht vergessen
darf: Nie mit leeren Händen gehen, man kann immer, vor allem zwischen neun und
halb zehn, etwas mitnehmen, Teller, leere Tassen und Fläschchen, zerknüllte
Servietten, die Aschenbecher nicht vergessen, wer setzt sich schon gern an
einen Tisch mit Kippen), wie kam der Schuh bloss dahin? Das ist mir völlig
unerklärlich! Nomi fragt, ob sie mich ablösen solle, und Frau Hungerbühler,
die mir bestimmt einen Fünfliber in die Hand drücken wird, ein Fünffrankenstück (fürs
Hinknien, fürs Suchen, fürs Finden, fürs Schwitzen), nein, ich schaff das
schon, sage ich, und Frau Hungerbühler nimmt meine Hände, ich wohne nicht weit
von hier, am Hornweg, besuchen Sie mich doch, wenn Sie mal Zeit haben, das
würde mich sehr freuen!, und ich, die darüber so überrascht ist, dass Frau
Hungerbühlers Augen die Einladung wirklich ernst meinen, bin unfähig, die passenden
Worte zu finden, sage nur, ist schon gut; statt mich über Frau Hungerbühlers
unerwartete

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