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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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Herzlichkeit zu freuen, ärgere ich mich über Herrn Pfister, der
sich gern amüsiert, der herzhaft und ausgiebig lacht, wenn ich auf meinen Knien
umherrutsche, um Frau Hungerbühlers Schuh zu finden, und Fräulein, sagen Sie
mir doch, warum arbeitet Anita nicht mehr hier?, die war doch gut, die war doch
ausgezeichnet?, und ich, die also zwischen neun und halb zehn plötzlich die
Augen von Herrn Pfisters Hund vor sich sieht, dunkelbraune, schreckhafte
Augen, ein schwarzes Fellknäuel, das sich unter die Sitzbank verzogen hat,
ich, mit Bluse und Jupe auf Knien, habe eine nasse Hundeschnauze vor mir, und
ich werde Herrn Pfister irgendwann, so wie sein Hund es tun würde, ins Bein
beissen, warum? Wahrscheinlich, weil Herr Pfister sich ein bisschen bückt,
unter die Sitzbank schaut, zu mir und zu seinem Hund sagt, ich bin ja selbst
Arbeitgeber, ich weiss ja, dass der Schweizer heute andere Ansprüche hat, und
dann, wenn die Schweizer erst mal weg sind, muss man sich mit Albanern oder
sonstigen Balkanesen zufrieden geben; Herr Pfister, der jetzt irgendwas merkt,
bei Ihnen, das ist ja etwas anderes, Sie sind ja schon eingebürgert und kennen
die Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes, aber die, die seit den 90ern
kommen, das ist ja rohes Material, sagt Herr Pfister und sitzt wieder aufrecht,
spricht nicht mehr zu mir und seinem Hund, sondern wieder zu seinem Freund, der
sicher auch Arbeitgeber ist, wissen Sie, der homo balcanicus hat die Aufklärung einfach
noch nicht durchgemacht, sagt Herr Pfister, übrigens, mein Hund beisst nicht,
ruft er mir zu, und sein Lachen erschüttert die Sitzbank, die gepolsterte,
gemütliche, senfgelbe, und ich finde, dass die Aussicht unter einer Sitzbank
überraschend ist (vor allem zwischen neun und halb zehn), und während ich mich
strecke, um Frau Hungerbühlers Schuh aus der Ecke zu fingern, beobachtet mich
dieser aufmerksame Hundekopf, und einen Augenblick lang denke ich daran, dass
man Hunde retten müsste, unbedingt die Hunde, man müsste sie retten vor
schamponierten Teppichen, Hundeparcours, Flanellhosenbeinen und lustigen
Witzen (wissen Sie eigentlich, wie mein Hund heisst, fragt Herr Pfister vergnügt),
die Aussicht also ist überraschend, etwas ganz anderes, unter den Bänken die
Beine, Socken, Strümpfe, Croissantkrümel zu sehen, Herrn Pfisters Waden, die
erstaunlich dünn sind, der wuschlige Hundekopf, der mit all dem nichts zu tun
hat, haben Sie ihn, zittert Frau Hungerbühlers Stimme, ja!, und nächstes Mal
werde ich länger bleiben, werde mich womöglich zu Herrn Pfisters Hund legen
(vielen Dank!) mit meiner umständlichen Bluse und meiner Stützstrumpfhose, ich
werde das tun, um das Mondial aus einer anderen Perspektive zu sehen, ein amüsanter
Gedanke, ein erschreckender Gedanke, dass ich da liegen bleiben möchte, bei den
unter den Sitzbänken unsichtbar gemachten Heizkörpern, ich, die schwitzt, bin
ganz nass, weil ich mehr als schwitze, der Schweis s bricht aus mir heraus,
Tisch sieben, der mich fixiert, die Gebrüder Schärer mit ihren doppelt
hintergründigen Augen. Entschuldigen Sie, sagt Herr Pfister, als er aufsteht,
sich sein Jackett zuknöpft, ich finde, Sie machen Ihre Sache sehr gut (danke
schön, ja, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Pfister, bis
morgen!), ich, die sich trotz allem geschmeichelt fühlt, ärgere mich, über sie,
die ich bin.
     
    Was ist mit dir los, fragt
mich Nomi, als das Mondial wieder halbleer ist, Nomi, die mir eine Zigarette
anzündet, mir sagt, dass ich mich hinsetzen soll. Ich habe die falsche
Strumpfhose angezogen, die falsche Bluse, ich habe nicht geschlafen, ich habe
noch nichts gegessen, heute ist Freitag, und Freitag ist der Tag, den ich
grundsätzlich nicht mag, warum, weiss ich nicht, vielleicht, weil es ein Tag
ist, der sich auflädt vor dem Wochenende ...
    Hör auf, sagt Nomi, komm
schon, was ist los, Nomi, die mich aufmerksam anschaut, mir die Schulter
streichelt; aber wir können, wie so oft, nicht weiterreden, die Tür geht
wieder auf und zu, wir drücken unsere Zigaretten aus, trinken rasch noch einen
Schluck Kaffee, wir reden später weiter, morgen Abend gehen wir zusammen aus,
ja?
     
    Himmlisch
     
    Mitten in der Nacht fahren wir
ein, 1986, wir fahren nicht, wie üblich, zur Hajduk Stankova, zu Mamika, sondern zu Tante
Icu, mit unserem weissen Mercedes bleiben wir, kurz vor dem Ziel, im Dreck
stecken. Ein plötzlicher Regen verwandelt die unasphaltierten Nebenstrassen in
eine schlammige Masse, wir

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