Abonji, Melinda Nadj
während sie erzählte. Und wie ihr
wisst, stellen die Pflanzen keine Fragen, sagte Mutter noch, bevor sie zu reden
anfing, uns die Geschichte erzählte, die für Nomi und mich seither Mutters Gelbe-Regen-Geschichte
war, an die wir uns erinnerten, wenn wir begreifen wollten, dass jeder Mensch
ein Geheimnis hat, sogar unsere Mutter, von der wir lange Zeit geglaubt hatten,
wir kennen sie in- und auswendig.
Ich weiss nicht mehr, wie
lange wir gegangen sind, wahrscheinlich fast eine Stunde, und Nomi und ich, wir
hörten auf zu kichern, wir wurden immer stiller, weil uns die Gegend nicht mehr
vertraut vorkam, die Häuser waren nicht mehr verputzt oder waren baufällig (ich
erinnere mich an ein Dach, das so aussah, als hätte es die Hand eines Riesen
eingedrückt), wir gehen und müssen auf jeden einzelnen unserer Schritte achten,
und der holprige Gehweg mündet in einen Feldweg, Nomi zeigt auf den Abwasserkanal,
in dem eine tote Katze liegt, Haushaltsmüll, sogar der Klatschmohn und die
Feldblümchen sehen dreckig aus, woran das liegt, fragt mich Nomi, aber ich
weiss es nicht, ich ahne nur, dass wir das, was wir bald sehen, nicht so leicht
wieder vergessen werden.
Häuser, die aus Brettern,
Wellblech, Kotflügeln, Stofffetzen, aus irgendwelchem Material gezimmert sind,
ein paar offene Feuerstellen, überall schlammige Erde, obwohl es seit Tagen
nicht mehr geregnet hat, es riecht nach Mist und Rauch und verbranntem Plastik
und Urin und Hühnerdreck und Schweinekot, hier lebt jetzt meine Csilla, sagt
Tante Icu und zeigt auf ein Haus, neben dessen Eingang ein dunkelrotes
Fahrradgestell steht, soll ich mich dafür schämen, sagt Tante Icu zu Mutter und
ruft laut: Csilla, Csilla, deine Tante ist da, deine Cousinen, komm schon! Und
ich will mich nicht umschauen, ich will nicht zuviel sehen, ich möchte meine
Augen irgendwohin drehen, zum Himmel vielleicht, damit ich die halbnackten,
verdreckten Kinder nicht sehe, die ich sonst nur aus der Distanz kenne, ein
paar Frauen, die uns mit rohen Augen beobachten, uns mit ihren Blicken die
Kleider stehlen, unser gesunde Haut; ja, genauso sieht es hier aus wie beim
Müllberg, da, wo die Zigeuner leben, ausserhalb der Kleinstadt, und weil ich
schon ein paar Brocken Englisch kann, fällt mir wahrscheinlich ein englisches
Wort ein, Slum, fällt mir
der Film ein, den uns der Geschichtslehrer vor den Ferien gezeigt hat über die
Vorstädte von Säo Paulo, aber hier ist nicht Säo Paulo, sondern meine Cousine
Csilla, die uns mit verschlafenem Gesicht um den Hals fällt, sich sofort eine
Zigarette anzündet, aus den Lücken ihrer Zähne raucht, dass ihr mich besucht,
sagt sie, ich wusste es!, und sie weint, verschluckt sich, küsst Mutter die
Hände, Csillas Haare, die verbrannt aussehen, Nomi, Ildi, sagt Csilla, so ist
es, wenn man sich unsterblich in einen Mann verliebt hat, aber jetzt kann ich
euch meinen Csaba nicht einmal vorstellen, er ist schon früh raus, sagt sie und
weint immer noch, schon gut, sagt Tante Icu, mach uns einen Kaffee, Tante Rózsa
möchte mit dir reden.
Csilla, die uns also ins Haus
führt, Kaffee ist keiner da, sagt sie, zieht den Rotz die Nase hoch, Tante Icu,
die den Kaffee wortlos auf den Tisch stellt, Csilla, die den Kaffee und den
Korb mit den Esswaren wortlos entgegennimmt, setzt euch, sagt sie, aber wohin?
Unsere Cousine, die bei der Nachbarin zwei Stühle holt, wie kann sie hier
leben, sagt Nomi leise zu mir, aber Tante Icu hat gute Ohren, das könnt ihr sie
ruhig fragen, und Tante Icu atmet tief durch, wischt mit einem Lappen über den
Tisch, und es ist schwer zu beschreiben, wie es da drinnen aussieht. Das liegt
daran, dass ich die Dinge, die ich sehe, nicht so leicht identifizieren kann
als Schrank oder Bett oder Abwaschtrog, an der Decke, wo überall Konservendosen
an Schnüren hängen, sieht lustig aus, sage ich, es tropft, meint Tante Icu und
sucht nach dem Kaffeekännchen, hier, sagt Csilla, als sie wieder reinkommt mit
zwei Stühlen, und sie zeigt auf eine Holzkiste mit Geschirr, ein paar Gläsern,
Tassen, Tellern. Setzt euch, sagt Csilla, setzt euch, damit ich euch bestaunen
kann, und unsere Cousine küsst noch mals Mutters Hände, meine Herzenstante Rózsa, du
siehst immer jünger und schöner aus!, was tust du hier, meine liebe Csilla,
fragt Mutter, während Tante Icu das Wasser aufsetzt, den Zucker abmisst, Nomi,
die mit ihrem Blick am Fenster hängenbleibt, da, wo man sieht, was ein Fenster
ist, nämlich ein Loch, das je nach Witterung mit einem
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