Abonji, Melinda Nadj
dicken Plastik oder
einem dünneren Stoff aus Flicken zugedeckt werden kann, und neben dem Fenster
hängt ein Schwarz-weiss-Foto an einer Stecknadel, Tante Icu, Onkel Piri, Bela
und Csilla, ein Bild, das ich am liebsten mitnehmen würde, ich würde das Bild
immer bei mir tragen wollen, warum, weiss ich nicht, vielleicht, weil ich das
Gefühl habe, das Foto trage ein winziges Stück Glück, einen Moment, in dem
alles möglich zu sein scheint — Csilla, die ein kurzes, gepunktetes Sommerkleid
trägt und ein Hütchen, Csilla, die der Mittelpunkt des Bildes ist, von Onkel
Piri, Tante Icu und Bela umarmt.
Mutter, Tante Rózsa, die jetzt
Csilla dieselbe Geschichte erzählt, die sie nicht uns, sondern den Pflanzen
erzählt hat, nachdem Tante Icu sie vor ein paar Wochen angerufen hat.
Ich, die am herabhängenden Plastik,
an den Tüchern vorbei ins Freie schaut, höre zu, höre der ruhigen, weichen
Stimme von Mutter zu, wie sie die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die
eigentlich Lehrerin werden will, es aber nicht werden kann, weil zu Hause kein
Geld da ist und ihr Vater es sowieso unnötig findet, eine Ausbildung, für ein
Mädchen!, und es seien schon genügend Verehrer da für die junge Frau, aber sie
hat sich geschworen, wenigstens eine Lehre abzuschliessen, wenn sie schon nicht
Lehrerin werden kann, und in dem Geschäft, wo sie ihre Lehre macht, lernt sie
einen Mann kennen, der anders ist als alle anderen (einer ist immer anders, sagte
Mutter und lachte), Imre Tóth heisst er, und wenn du wissen willst, warum sich
die junge Frau in diesen Mann verliebt, dann gibt es darauf nur eine Antwort,
wegen seinem Humor, er war schön in seinem Humor, sagt Mutter, das kann man
sich gar nicht vorstellen. Der Imre wird eingezogen, zum zweijährigen
Militärdienst, nach Kroatien, die junge Frau hat ein paar freie Tage an
Pfingsten, sie reist mit dem Bus nach Kroatien, und ihr Vater tobt, natürlich
hat sie ihm nicht gesagt, dass sie zu ihrem Geliebten fährt, ihr Vater brüllt
vor Wut, weil sie so weit wegfahren will, allein, wahrscheinlich hat er doch
etwas geahnt, die junge Frau hat nämlich plötzlich ein ganz anderes Gesicht,
das kann sie nicht verstecken, ihre Mutter nimmt sie in Schutz, lass das
Mädchen, wenn du sie nicht gehen lässt, wirst du sie für immer verlieren. Die
junge Frau hat einen Fensterplatz, im Bus fühlt sie sich das erste Mal frei in
ihrem Leben, und wenn mein Vater mich grün und blau schlägt, ich werde nichts
bereuen, denkt sie und hat keine Angst, sie steigt fünf Mal um, und in jeder
Sekunde denkt sie an ihren Imre, an die Stunden, die sie endlich mit ihm allein
verbringen wird. Und der Imre holt sie ab, am Busbahnhof, er hält ein paar
Blumen in der Hand, und die nächsten drei Tage sind so, dass die junge Frau
niemandem darüber erzählen mag. Sie fährt zurück, mit Imres Versprechen, dass
sie nach seinem Militärdienst heiraten werden, heiraten, und nichts wird so
sein wie bei meinem Vater, denkt die junge Frau, er wird mich nicht schlagen,
er wird mich nicht beleidigen, er wird gut sein zu mir, jeden Tag. Im gleichen
Jahr stirbt ihre Mutter, was schwer ist für sie, weil sie alles an ihrer Mutter
geliebt hat, sogar wenn sie schlechte Laune hatte, heute habe ich die Laune
eines alten Hundes, sagte ihre Mutter dann und rümpfte ihre Nase, oder sie
sagte, heute muss der Tag ohne mich auskommen (Tante Icu, die die Kaffees auf
den Tisch stellte, sich neben Mutter setzte, ihr die Hand auf den Arm legte),
es gäbe noch viel zu erzählen über die Mutter der jungen Frau, "meine über
alles geliebte Mutter" lässt sie in den Stein eingravieren, ihr Vater
zittert vor Wut, weil es viel Geld gekostet hat, der Stein, die Gravur, aber
sie hat es selbst bezahlt, und das erzähle ich nur, sagt Mutter, weil die junge
Frau spürt, wie sie mit dem Tod der Mutter auch einen umfassenden Schutz verliert.
Wenige Tage nach der Beerdigung der Mutter weiss sie, dass sie schwanger ist.
Sie erzählt ihrem Vater von Imre, nicht aber davon, dass sie in anderen
Umständen ist, sie will prüfen, wie er reagiert, und ihm dann die ganze
Wahrheit sagen. Du bist eine gewöhnliche Hure, das sagt ihr Vater. Ein paar
Wochen später rennt er nach einem Streit mit einem Stössel aus Bronze auf sie
los. Sie hat nach dem Tod ihrer Mutter für den Vater gewaschen, gekocht, das
Vieh versorgt und hat ihn dann um Geld gebeten, um Holz zu kaufen, für den
Herbst und Winter, und Mutter schlürfte ein bisschen Kaffee, bevor sie
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