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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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rauchenden
Zigarette aufsteht, zu uns kommt, an den Tisch, der die Hand ausstreckt nach
Nomi, sie in die Arme nimmt, ich, die Vater die Zigarette aus den Fingern
zieht, Vater, der sein Gesicht verbirgt in Nomis Schulter.
    Niemand von uns hat erwartet,
dass das Telefon frühmorgens klingelt. Es ist halb sechs, Vater ist bereits
weg, als es zwei Mal klingelt und danach wieder still ist. Nomi, Mutter und
ich treffen uns im Korridor, warten neben dem Telefontisch, vielleicht ist
Dragana krank oder Glorija, sagt Mutter, und wir wissen alle, dass es um etwas
anderes geht. Ein paar Minuten später klingelt es wieder, hallo, hallo? Du bist
es, sagt Mutter in unserer Sprache und hält den Hörer mit beiden Händen, und
schon bald sagt sie, dass es ihr leid tue, ach, meine Liebe, sagt sie, ich
hoffe, dass alles gut geht, was?, die Verbindung ist so schlecht, ich kann dich
fast nicht hören, ja, ich bin auch froh, dass wir uns wenigstens gehört haben,
Mutter, in deren Händen der Hörer liegt, uns anschaut mit ihren fliehenden
Augen, sagt, dass sie Bela eingezogen haben, in die jugoslawische Volksarmee,
nicht jetzt, sondern schon vor zwei Monaten, dass er jetzt in Bosnien kämpfe,
in Banja Luka.
    Und ich weiss, dass ich nichts
fragen darf, dass ich jetzt still sein muss, dass wir uns anziehen müssen, dass
wir nichts tun können, Mutter dreht sich um, verschwindet im Schlafzimmer,
zieht die Tür hinter sich zu, und sie, die ich bin, steht da, im Korridor, und
mein Blick bleibt am Puzzle-Bild hängen, das Nomi und ich vor Jahren zusammengesetzt
und aufgeklebt haben, ein 750-teiliges Landschaftsbild aus Bergen, Wiesen und
Blumen und — das Schwierigste — einem glasklaren Himmel. Nomi, die mich kurz
anschaut, dann das Bügelbrett aufklappt, das Bügeleisen mit Wasser füttert, um
eine dieser zeitlos hässlichen Blusen zu plätten, und ich verziehe mich ins
Badezimmer, um an diesem Morgen das zu tun, was ich täglich tue: Gesicht, Hals
und Achselhöhlen waschen, Zähne putzen, Wimpern tuschen, einen unauffälligen
Mund malen, um schon bald angenehm in Erscheinung treten zu können. Und wir
werden einzeln die schlechte Nachricht in uns hineinfressen, hoffen, dass die
nächsten Tage sich nicht um uns kümmern, dass sie gesichtslos und normal an uns
vorbeiziehen, und ich habe keine Ahnung, was man tun müsste, ja was denn? Man
müsste man müsste man müsste ... und anstatt dass sich in meinem Hirn ein
überzeugender Aktionsplan entfaltet, fällt mir nur ein, dass Onkel Piri im
Gemeindesaal einen Vortrag über die kusok halten könnte, wie er die Politiker immer nannte,
eine, wie mir scheint, passende Verballhornung des ungarischen Wortes für
Politiker, politikusok, das auf
Deutsch nach Kuscher klingt,
weil das ungarische "s" wie "sch" ausgesprochen wird - und
Tante Icu würde ihn mit ihrer reglosen, stolzen Miene anfeuern —, diese
Luftbanditen, Luftzerkauer sehen so aus, als hätte ihnen ein Kalb das Gesicht
geleckt, aber es war nicht die rosige Zunge eines unschuldigen Tieres, oh nein,
viel eher hat der Teufel mit seiner gespaltenen Zunge jedes einzelne kusok geleckt! Schau sie dir an,
sagte er, als wir einer politischen Debatte zuhörten, die im Fernsehen
übertragen wurde, ein kusok ist wie der andere: Wenn er mal da ist, wo er
hinwollte, hat er das gleiche geschleckte Gesicht wie all die anderen, und es
sieht einem geölten Arsch nicht unähnlich, na, wie ist das möglich? Und Tante
Icu, die beim Stichwort "Tier" wieder einmal die Gelegenheit
benutzte, um über Belas Tauben zu fluchen, diese Viecher treiben mich noch in
den Wahnsinn, tun den ganzen Tag nichts anderes als rumgurren und rumscheissen (die
Taubenzucht von Bela, die den ganzen Dachboden in ein gespenstisches Meer von
grau-weiss-grünlich ruckenden Köpfen verwandelte, Vater, der, als er die Tauben
zum ersten Mal sah, gesagt haben soll: Schau einer an, so viele hübsche
Kommunisten auf einem Haufen habe ich schon lange nicht mehr gesehen), Bela,
der die Tauben nicht mitnahm, als er heiratete, in ein filzgrünes Haus auf der
gegenüberliegenden Strassenseite zog, weil er befürchtete, dass seine gottverdammten
Viecher empfindlich sind, diese lächerliche, winzige Umstellung nicht
überleben, so fluchte Tante Icu, diese Viecher, deren Augen so hässlich sind
wie Nacktschnecken, fliegen überallhin, meinst du, die kümmert's, ob sie nun
hier oder einen Steinwurf weiter weg von Bela verhätschelt werden? Tante Icu,
die sich zwar immer über die Tauben ärgerte,

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