Abonji, Melinda Nadj
sonst aber nichts auf ihren Sohn
kommen liess, Tante Icus goldene Ohrringe, die in glücklicher Erregung
zitterten, wenn ihr Sohn anya zu ihr sagte, Mutter, in einem Tonfall, der genau
wusste, was er bewirkte, nämlich all das, was er sich in den Kopf gesetzt
hatte.
Am Samstag muss ich um sieben
im Mondial sein, muss mein Gesicht bereit sein, guten Morgen!, und bei der
Arbeit werde ich das Radio heute sicher nicht anstellen, auch wenn alle fragen:
Fräulein, warum ist es so merkwürdig still? (nach langen Wochen, da wir endlich
wieder ein Lebenszeichen von unserer Familie bekommen haben, ein Zeichen, dass
das eintritt, was wir hier täglich einsam befürchten, dass die Familie, die
drüben ist, im Osten, nicht verschont bleibt, dass der Krieg tatsächlich ein
Gesicht hat, das befiehlt: Pack deine Sachen, los, mach schon! Arme, Beine und
eine fatale Geschwindigkeit, die sofort tötet, wenn jemand sich widersetzt),
heute werde ich mich taub stellen, denke ich, ich, die eigentlich schon lange
nichts mehr hören will, sehen schon gar nicht, kein Radio, kein TV (was läuft
eigentlich so in der Welt?), Zeitungen?, so oft habe ich mir vorgenommen,
nichts mehr an mich ranzulassen, tagelang habe ich kein Radio gehört, keine
Zeitungen gelesen, habe mich in mein Zimmer verzogen, mir sogar die Ohren
verstopft, wenn Vater stundenlang die Nachrichten geschaut hat; ich habe mich
tagelang enthalten, wenn ich fassungslos war über Titel wie "Gibt es noch
einen Weg aus der Balkan-Horrorshow?", um plötzlich wieder alle
Tageszeitungen fiebrig nach Artikeln über den Balkankrieg abzusuchen
(Balkankrieg, das klingt wie eine Spezialität, so wie es Waaddänder Saucisson
oder Wiener Schnitzel gibt, witzelte Nomi, ja genau, Balkankrieg ist die
Spezialität eines Volkes, ein hausgemachtes Produkt, das einem kriegerischen
Charakter entspringt; es gelingt uns manchmal, uns über solche Begriffe wie "Balkan-Horrorshow"
lustig zu machen, weil wir dem Schmerz Flügel verleihen wollen, und ich weiss,
dass sich das ab heute ändern wird, ich weiss, dass ich keine Zeile mehr über
den Balkankrieg werde lesen können, ohne dass ich an Bela denke).
Ich öffne meine Schranktür mit
Schwung, damit ich den Schrankwind in meinem Gesicht spüre, ich, die ratlos vor
ihren Mondial-Kleidern steht (hübsch soll es sein, aber nicht auffällig,
farbig, aber nicht grell, ich kombiniere, wähle so aus, dass ich dem allgemeinen
Geschmack entspreche, das heisst oben nie zu dunkel, keinesfalls eine schwarze
Bluse, im Allgemeinen oben immer heller als unten, ein schwarzer Jupe, das
geht, eine schwarze Bluse niemals), und seit längerem habe ich angefangen, den
Mondial-Kleidern Namen zu geben. Die Daisy-Duck-Bluse habe ich bereits erwähnt,
aber da gibt es noch andere, das armeegrüne Kleid zum Beispiel, von dessen
einer Schulter sich ein etwa handbreites, sinnloses Stück Stoff bis zur Hüfte zieht,
und die Blusen der Marke Zeitlos-Hässlich (hellgrau oder hellbeige, aus
dickerem Stoff und unverfänglich geschnitten) und die sogenannten Deux-Pieces,
die ich meine Pfister-Kleidchen nenne, weil mir Herr Pfister jedes Mal, wenn
ich eines von ihnen trage, ein Kompliment macht, und weil ich mich für nichts
entscheiden kann, ziehe ich die Schublade auf, reisse eine Packung "Femme
luxe" auf, verkürze die Strumpfhosenbeine Stück für Stück in meinen Händen,
lege meine Zehen in die verstärkten Enden, ziehe die Strumpfhose über die Knie,
zu rasch, und ich ärgere mich über die Lauf- oder Fallmasche, ich ziehe die
Strumpfhose wieder aus, Nomi, die an meine Zimmertür klopft, wir müssen bald
los, sagt sie, ja!, und ich, die wieder vor dem Schrank steht, mir vorstelle,
wie ich mich in eine Bluse packe, wie ich mich zuknöpfe mit den Knöpfen, die
mit demselbem Stoff überzogen sind wie die Bluse, als ich mir vorstelle, wie
ich bald mit hochgeschlossener Bluse und Jupe im Mondial stehe, sehe ich Bela,
wie er in meinem Schrank kauert. Mit dem Gesicht eines bleichen Mannes, eines
zu Tode erschrockenen Jungen macht er unmissverständliche Handzeichen, ich soll
den Schrank wieder schliessen, er hat sogar die Lip pen bewegt, sage ich zu
Mutter, die in meinem Zimmer steht, neben Nomi, ich, die den Schrank
geschlossen hat, weil Bela mich darum gebeten hat, sage ich; Mutter, die meint,
die Nachricht sei ein Schock, klar, und sie öffnet den Schrank, um mir zu
zeigen, dass es eine Einbildung war, meine Phantasie, die mir einen Streich
gespielt hat, Nomi, die mir ein Kleid aus
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