Abonji, Melinda Nadj
werden müsste, statt dass wir
dauernd darüber debattieren, was für eine Art Krieg der Krieg auf dem Balkan
ist. Wenn nicht andauernd alle Politiker darüber reden würden, wie kompliziert
die Situation auf dem Balkan ist, dann könnte jetzt das Schlimmste noch vermieden
werden — Ildi, warum hast du deine Schuhe ausgezogen?, und Dalibor schaut mich
jetzt an, mit diesen Augen, die in meinen Augen versinken wollen, und ich, ich
lasse meine Zehen unter seinem Hosenbein verschwinden, sie wollen ganz nah bei
dir sein, meine Füsse, und dir zuhören. Vielleicht sollte man wirklich mit den
Füssen hören und nicht mit den Ohren, sagt Dalibor lachend, nimmt meine Hände,
küsst sie, Handflächen und Fingerkuppen, und er atmet ein paar Mal in meine
Hände hinein, bevor er sagt, womöglich würde man mit hörenden Füssen andere
Entscheidungen treffen, man würde ziemlich sicher anders hören, und ich wäre
heute ein fliegender Mensch, ein Akrobat, der ich eigentlich werden wollte, das
wäre mein Traumberuf gewesen, ein Artist der Lüfte, Ildi, das wäre ich und kein Ylikbter, der sich in seiner endlosen
Zeit dauernd vergeblich vorbetet, dass er zum Töten gezwungen worden ist.
Wir haben uns ziemlich genau
ein halbes Jahr getroffen, Dalibor und ich, meistens am See, im Bootshaus, das
nicht mehr benutzt wird, haben wir uns ausgezogen, manchmal hastig, um der
Scham nicht genügend Zeit zu lassen, wir haben uns selten geküsst, weil es die
intimste aller Berührungen ist, so sagte er, so sagte ich; und ich blickte
verstohlen auf seinen Körper, auf seine Hüften, die verboten schlank waren,
auf Arme, die in ihrer muskulösen Ausgezehrtheit eine andere Geschichte
erzählten als: Wir werden dich über die Schwelle tragen. Und ich, die seinen
hastigen Atem spürte, dessen Rhythmus irgendwo in der jüngsten Vergangenheit
ins Stocken geraten war; es geht nicht, sagte er, es wird nicht gehen!, und die
Verzweiflung hatte sein Gesicht, ich habe dich kennengelernt, um zu merken,
dass es nicht geht. Was geht nicht, fragte ich, und ich wusste, dass die Frage
sinnlos war, es braucht Zeit, sagte ich, es geht vielleicht nicht von heute
auf morgen, aber irgendwann wird alles leichter, glaub mir.
Und er, der Flüchter, zog mich zu sich hin, verbarg
seine Augen hinter den Lidern, verschwand mit seinem Mund an meiner Schulter,
schluchzte, sein nackter Körper, der die unbändige Sehnsucht hatte, ganz nah
bei mir zu sein, eine Sehnsucht, die plötzlich in etwas Feindliches kippte, und
Dalibor sah mich an, mit verbrauchten Augen, als hätten wir uns nichts mehr zu
sagen, als hätte er nie meinen Hals in einer Art gestreichelt, die mich an die
schönste, mildeste Frühlingsluft erinnerte, eine Luft, die die feinsten Härchen
auf der Haut spürbar macht; hast du nicht gesagt, du hättest dich in mich ...
und Dalibor schaute mich an, mit diesen Augen, rezitierte ein Gedicht in
seiner Sprache, das ein Freund von ihm geschrieben hatte, er übersetzte es auf
Englisch und sagte dann, ja, ich habe mich in dich verliebt, gerade deswegen.
Und ich, die in den nächsten
Tagen nach der Arbeit am Bahnhof stand, in der Telefonzelle, versuchte,
Dalibor anzurufen, wählte die Zahlen, die Nummer, ich hängte auf, wenn sich
eine fremde Stimme meldete, Dalibors Cousin, die Stimme, die irgendwann einmal,
ohne dass ich gefragt hätte, sagte, Dalibor ist nach Dubrovnik gefahren, er
lässt Sie grüssen, und er kommt zurück, ganz bestimmt.
Mit dem Zug sind wir durch die
Nacht gefahren, wir sind sicher immer wieder eingenickt, Sie haben uns manchmal
zugedeckt, mit einer Strickjacke, haben uns gestreichelt, mit Ihrer weichen
Hand, und ich glaube, dass Sie kaum geschlafen haben, ich kann mich jedenfalls
nicht erinnern, dass ich wach gewesen bin und Sie geschlafen haben; wir haben
gedöst, geschlafen, gegessen und sassen ganz still, als die Grenzpolizisten uns
musterten, uns und unsere Papiere, und wenn sie irgendwas gesagt haben, in
einer uns unbekannten Sprache, haben Sie Ihre Hände gezeigt, die Schultern
hochgezogen, und ich vermute, dass wir sehr glaubwürdig aussahen in unserer
angstvollen Unsicherheit, die Grenzpolizisten gaben uns ernst, manchmal aber
auch lächelnd unsere Papiere zurück, gaben uns also die Erlaubnis, unsere Reise
fortzusetzen, und als der Zug weiterfuhr, hielt ich Ausschau nach dem festlichen
roten Band, das ich mir in meinem Kinderkopf als Grenze vorgestellt hatte, aber
ich sah nur einen grell beleuchteten Bahnsteig, ein paar
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