Abonji, Melinda Nadj
Uniformierte, die hin
und her gingen, an eine grosse Bahnhofsuhr kann ich mich erinnern, eine
geschlossene Imbissbude, wir fuhren weiter in die Nacht hinein, in einem neuen
Land, jetzt sind wir schon bei den Österreichern, haben Sie gesagt, die Nacht,
die uns mit ihrer Dunkelheit fraglos aufnahm (später werde ich mich immer
wieder daran erinnern, an meine erste, naive Vorstellung von einer Grenze;
jedes Mal, wenn wir mit dem Auto in die Vojvodina oder zurück in die Schweiz
fahren, suche ich etwas, das zu diesem festlichen roten Band passt, aber da
gibt es nie etwas, ausser Wachtürmen, patrouillierenden Soldaten, die ihre
Waffen so selbstverständlich tragen wie ein Paar Schuhe, Wachhunde, die an
ihren Leinen ziehen, und meistens wehen an den Grenzen Fahnen oder hängen
schlaff an Stangen nebeneinander, die Steine, die Büsche, das Gras, die wenigen
Bäume kommen mir farblos vor, unnatürlich, und die Frage bleibt, warum eine
Grenze nur eine vielschichtige, nüchterne Drohung ist).
Ein Mann hat die Schiebetür
aufgestossen, hat seinen Rucksack verstaut und sich in unser Abteil gesetzt,
und Nomi und ich, wir haben ihn gemustert, wir waren so neugierig auf diesen
Mann, der ja ein Österreicher sein musste, wir Hessen ihn nicht aus den Augen,
als er ein belegtes Brot, eine Thermosflasche aus seinem Rucksack packte,
könnt ihr eure Augen wieder einmal woanders hinpflanzen, haben Sie gesagt und
an unseren Ärmeln gezupft, als wir den Mann trotzdem weiter beobachteten, er
sieht ein bisschen aus wie Nándor, hat Nomi mir zugeflüstert, findest du?, aber
es kann ja nicht Nándor sein, wenn er ein Österreicher ist, habe ich lachend geantwortet,
und der Mann hat uns Süssigkeiten angeboten, uns und Ihnen, wir haben Sie
angeschaut, ob wir dürfen, dann haben wir schüchtern unsere Hände nach den
Keksen ausgestreckt, der Mann hat irgendetwas gesagt, wir haben genickt, uns in
unserer Sprache bedankt, und er hat geantwortet, auf Ungarisch, natürlich sind
wir erschrocken, bis wir gemerkt haben, dass der Mann nur ein paar Brocken Ungarisch
spricht. Sie haben ihm, nach den Keksen, von unseren Hühnerbeinen angeboten,
und unsere Münder glänzten ölig im schummrigen, gelben Licht des Abteils, und
für ein Mal durften wir alles durcheinanderessen, Hauptsache, die Zeit geht
ein bisschen schneller vorbei, haben Sie gesagt, und plötzlich hat der Mann
seine Sachen in seinen Rucksack gestopft, hat die Schiebetür aufgerissen, und
im nächsten Moment klopfte er gegen das Fenster, hat sich lachend und winkend
von uns verabschiedet.
Es war auf jeden Fall hell,
als wir angekommen sind, ob es Morgen war oder bereits Mittag oder sogar
später, weiss ich nicht. Mutter und Vater haben am Bahnhof auf uns gewartet,
auf dem Bahnsteig. Mutter hat gewinkt, als sie mich aussteigen sah. Ich habe
Ihnen beim Aussteigen geholfen, Nomi, Sie und ich, wir standen schon da mit
unserem Gepäck, als Mutter und Vater ihre Arme öffneten, lange nichts sagten
oder vielleicht nur: Endlich seid ihr da!, und ich weiss, dass sich die Arme um
mich schlangen, dass ich die Freude spürte, die Erleichterung meiner Eltern,
aber ich weiss, dass ich Ihre Hand nicht loslassen wollte, ich weiss nicht, ob
ich noch etwas anderes wollte, als in Ihrer Nähe bleiben, Mutter, die Tränen
in den Augen hatte, Vater, der Nomi hoch in die Luft warf; ich weiss nicht, ob
ich es mir einbilde oder ob es so war, dass ich damals schon, als wir
angekommen sind, geahnt habe, dass es zwischen mir und meinen Eltern eine
unaufholbare Zeit geben würde, und für Nomi würde das nicht im gleichen
Ausmass so sein, vermutlich weil sie zwei Jahre jünger ist.
Vater hat sich das Gepäck
aufgeladen, Mutter hat ihre Arme um unsere Schultern gelegt, ihr müsst müde
sein, hat sie bestimmt gesagt, zu Hause essen wir etwas Schönes, und dann müsst
ihr euch ausruhen.
Mamika, ich versuche mich zu
erinnern, wie es war, dieses Ankommen im neuen Zuhause, die neue Wohnung, das
neue Bett, die neuen Spielsachen, eine Toilette zu haben in der Wohnung, einen
Fernseher, ein Telefon; wie war es denn, die Tür zu öffnen und in eine völlig
fremde Welt einzutreten, in eine Mietwohnung, die mehr kostete als Mutter in
einem Monat verdiente?, was ist in mir vorgegangen, in Nomi, als wir den
asphaltierten Vorplatz sahen, die Zierpflanzen in den Fenstern, auf den Balkonen,
den Spielplatz hinter dem Haus? Sooft ich mich an den ersten Tag, die ersten
Tage in der Schweiz zu erinnern versuche, es gelingt mir nicht, die
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