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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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ließ mich auf die Treppenstufe hinter mir sinken. »Das ist also deine Reaktion darauf, dass wir dich bei uns aufnehmen, dich auf eine Superschule schicken, dir alles geben, was du brauchst? Du haust ab und besäufst dich sinnlos?!«
    Ich schüttelte den Kopf. Meine Kehle war wie zugeschnürt, ein Tränenkloß setzte sich ganz oben fest. Der Tag war so lang gewesen, so schrecklich, dass es mir vorkam, als wären Jahre, ja, ein ganzes Leben vergangen, seit ich heute Morgen genau hier gestanden und mich mit Cora gestritten hatte.
    »Wir waren skeptisch, aber wir haben dir trotzdem vertraut. Haben uns gesagt, im Zweifel für den Angeklagten«, sagte Jamie. »Wir haben
alles
für dich getan. Und das ist der Dank?!«
    »Hör auf, Jamie!« Cora erhob die Stimme.
    »Wir haben das nicht nötig.« Er trat auf mich zu. Ich zog die Knie an die Brust, machte mich so klein wie möglich. Ich wusste, ich verdiente es. Und wollte gleichzeitig nur, dass es endlich vorbei wäre. »Vor allem deine Schwester. Sie hat darum
gekämpft
, dich bei sich aufnehmen zu dürfen, obwohl du so dämlich warst, dich mit Händen und Füßen dagegen zu wehren.
Sie
hat das nicht nötig. Hat das nicht verdient.«
    Ich spürte, dass mir die Tränen kamen. Zum x-ten Mal an diesem verwünschten Tag verschwamm alles vor meinen Augen. Doch obwohl ich in diesem Moment froh und dankbar dafür war, vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Immer schön auf Nummer sicher gehen, lautete die Devise, nach wie vor.
    Jamie redete unerbittlich weiter; seine Stimme hallte laut von den Wänden wider, stieg in die luftigen Höhen der Eingangshalle. »Wer macht so was? Wer haut einfach ab, verschwindet spurlos, ohne wenigstens kurz anzurufen? Wem ist es offensichtlich völlig egal, dass sich vielleicht jemand Sorgen macht, wo der andere abgeblieben ist? Wer bringt so etwas?«
    Stille. Keiner von uns gab einen Ton von sich. Doch ich kannte die Antwort.
    Wusste besser als jeder andere in diesem Raum, wer so etwas fertigbrachte. Allerdings war mir bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, dass nicht nur meine Mutter im Sinne der Anklage in allen Punkten schuldig war. Ich hatte mir selbst eingeredet, dass alles, was ich in den Wochen bis zu und nach ihrem Verschwinden getan hatte, nur einen Zweck hätte: um jeden Preis zu verhindern, dass ich je so wurde wie sie. Doch es war zu spät. Ich war bereits so. Um das zu begreifen, musste ich mir bloß vor Augen führen, wie ich heute Morgen auf das reagiert hatte, was Cora mir eröffnete: Ich war abgehauen, hatte mich besoffen, hatte unbewusst dafür gesorgt, dass ich allein gelassen wurde, irgendwo in der Wildnis.
    Diese Erkenntnis war fast eine Art Erleichterung. Ich wollte plötzlich laut aussprechen, was ich gerade kapiert hatte. Wollte es Jamie, Cora, Nate, jedem auf der Welt klar und deutlich ins Gesicht sagen. Damit sie wussten, dass sie aus mir keinen besseren Menschen machen oder versuchen sollten, mich zu retten. Weil es eh sinnlos war. Wozu die Mühe, wenn sich das Muster bereits wiederholte? Es war zu spät.
    Ich nahm die Hände vom Gesicht, wollte Jamie das alles gerade mitteilen. Da bemerkte ich, dass ich ihn gar nicht mehr sehen konnte. Meine Schwester versperrte mir die Sicht. Sie hatte sich mittlerweile zwischen uns gestellt, mit dem Rücken zu mir   –
aber
sie streckte eine Hand hinter sich, mir entgegen. Sofort kamen mir tausend Abende in einem anderen Haus in den Sinn: wir beide, zusammen, ein anderer Teil eines anderen Musters. Nur dass ich geglaubt hatte, es hätte schon vor langer Zeit aufgehört zu existieren. Würde sich nie wiederholen.
    Vielleicht war ich ja wie meine Mutter. Doch ich betrachtete Coras Hand und fragte mich plötzlich, ob dieses mein angebliches Schicksal vielleicht doch noch nicht endgültig besiegelt war. Ob das hier möglicherweise   – ganz eventuell   – meine allerletzte Chance war, das zu beweisen. Es zumindest zu versuchen. Wissen konnte ich es natürlich nicht. Kann man nie. Trotzdem streckte ich die Hand aus und ergiff Coras.

Kapitel neun
    Als ich am nächsten Morgen runterkam, war Jamie, wie ich vom Küchenfenster aus sehen konnte, draußen am Teich. Er hockte am Rand, sein Atem hing als kleine Wolke, die ständig verschwand und wiederkam, vor seinem Mund, zu seinen Füßen stand sein Kaffeebecher, auf der Erde. Er tat das jeden Morgen, egal bei welchem Wetter, sogar wenn es eisig kalt und das Gras mit Raureif bedeckt war: nachschauen, wie es dem kleinen Universum

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