About Ruby
erleichtern, Ruby. Das meine ich ernst. Wenn ich die Zeit zurückdrehen und alles noch mal entscheiden dürfte, würde ich einiges anders machen.«
Ich wollte nicht von mir aus nachfragen, was sie meinte. Brauchte ich zum Glück auch nicht.
»Von dem Tag an, da ich ausgezogen bin, habe ich mir den Kopf zerbrochen, was ich hätte tun können, um die Verbindung mit dir nicht abreißen zu lassen.« Sie glättete einige widerspenstige Locken mit der Hand. »Vielleicht hätte ich sogar einen Weg gefunden, dich mitzunehmen. Indem ich zum Beispiel eine eigene Wohnung gemietet hätte.«
»Cora, du warst
achtzehn
.«
»Ich weiß. Aber mir war auch klar, wie labil Mama ist, sogar damals schon. Und es wurde im Laufe der Zeit ja bloß noch schlimmer«, antwortete sie. »Ich hätte ihr niemals vertrauen, hätte ihr nie glauben dürfen, dass sie dir meine Nachrichten ausrichtet oder zulässt, dass du mit mir Kontakt aufnimmst. Es gab garantiert Dinge, die ich hätte tun können, um zu verhindern, was passiert ist. Bei meiner Arbeit habe ich tagtäglich mit Kindern zu tun, die aus kaputten Familien stammen. Und inzwischen habe ich gelernt, wie man damit umgeht. Das schließt dich übrigens mit ein – ohne meine Ausbildung und Erfahrung würde es mir viel schwerer fallen, mit dir klarzukommen. Wenn ich bloß damals schon gewusst hätte –«
»Hör auf«, unterbrach ich sie. »Das ist Vergangenheit. Vorbei. Es spielt keine Rolle mehr.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Ich würde das so gern glauben«, erwiderte sie. »Ehrlich.«
Ich sah meine Schwester an. Dachte daran, wie ich ihr als kleines Mädchen überallhin gefolgt war. Mich umso stärker an sie geklammert hatte, je mehr meine Mutter sich zurückzog. Und jetzt war ich wieder am Anfang, war wieder von ihr abhängig – ein eigenartiges Gefühl. Noch während mir der Gedanke durch den Kopf schoss, fiel mir etwas anderes ein. »Cora?«
»Ja?«
»Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem du ausgezogen bist, um mit dem Studium anzufangen?«
Sie nickte.
»Bevor du abfuhrst, gingst du ins Haus, um mit Mama zu reden. Was hast du zu ihr gesagt?«
Sie atmete tief durch, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.»Wahnsinn«, meinte sie. »Daran habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht.«
Ich hatte keinen Schimmer, warum ich sie das gefragt hatte oder ob es überhaupt wichtig war. »Sie hat nie darüber gesprochen«, sagte ich. »Trotzdem habe ich immer wieder darüber nachgedacht, was es wohl war.«
Cora schwieg eine Zeit lang. Ich fing schon an, mich zu fragen, ob sie überhaupt antworten würde. Doch schließlich meinte sie: »Ich habe ihr gesagt, dass ich die Polizei einschalten würde, wenn ich mitkriege, dass sie dich verprügelt. Und dass ich so bald wie möglich versuchen würde, dich da rauszuholen.« Sie machte ein Pause. »Und ich habe selbst daran geglaubt, dass ich es machen und schaffen würde, Ruby. Ich wollte mich um dich kümmern, unbedingt.«
»Schon in Ordnung.«
»Nein, ist es nicht.« Sie ließ meinen Einwand nicht gelten. »Dafür habe ich jetzt die Möglichkeit, es wiedergutzumachen. Spät, aber immerhin: Die Chance ist da. Mir ist vollkommen klar, dass du eigentlich gar nicht hier sein willst, was die Sache nicht leichter macht, aber . . . Ich möchte dir helfen. Du musst mich allerdings auch lassen. Okay?«
Sie lassen.
Es klang so passiv. So einfach. Aber ich wusste, das war es nicht. Gleichzeitig kam mir blitzartig in den Sinn, was Peyton zu mir gesagt hatte; ich sah sie wieder vor mir, unten am Fuß der Treppe.
Wundert dich das
?, hatte sie gefragt. Und obwohl die ganze Situation ansonsten total daneben gewesen war – in dem Punkt hatte sie vollkommen recht gehabt. Man bekommt so viel, wie man zu geben, aber auch zu
nehmen
bereit ist. Gestern Abend hatte ich Cora meine Hand überlassen. Wenn ich sie jetzt festhielt, konnteniemand voraussehen, was ich am Ende
noch
dafür bekommen würde.
Einen Augenblick lang saßen wir nur da in der stillen Küche, ohne ein Wort. Schließlich fragte ich: »Glaubst du, Mama geht es gut?«
»Keine Ahnung«, entgegnete sie. Und setzte etwas sanfter hinzu: »Hoffentlich.«
Jemand anderer hätte sich über diese relativ nachsichtige Antwort womöglich gewundert. Aber ich empfand sie als ganz normal. Denn so war sie, meine Mutter. So stark war die Anziehungskraft, die von ihr ausging: damals, jetzt, bis in alle Ewigkeit. Wir gehörten zu ihr, waren mit ihr verbunden, egal, wie kalt sie war, wie mies, wie
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