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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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bereits da, direkt vor meinen Füßen. Ich hatteJamie nicht einmal gehört, als er sie hingestellt hatte, was mir fast unmöglich erschien. Aber er hatte es getan und ich nichts davon mitgekriegt. Aus irgendeinem Grund brachte mich der Anblick der Tasche noch mieser drauf als alles andere an jenem Tag. Ich schämte mich auf eine Art und Weise, die ich nicht einmal ansatzweise hätte erklären können. Bückte mich, hob die Tasche auf, zog mich mit ihr in das Zimmer zurück.

Kapitel zwei
    Meine Mutter hasste es zu arbeiten. Seit ich denken konnte, hatte sie noch nie einen Job gehabt, der ihr auch nur im Entferntesten Spaß gemacht hätte (und bei denen,
die
sie hatte, verhielt sie sich ganz bestimmt nicht wie die Angestellte des Monats). Arbeit galt bei uns als Schimpfwort, Arbeit machte allem Spaß am Leben offiziell den Garaus, zur Arbeit schleppte man sich höchstens, über Arbeit schimpfte man grundsätzlich. Und wann immer man konnte, vermied man es ganz und gar zu arbeiten.
    Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn sie eine Ausbildung für irgendeinen hippen oder auch nur halbwegs angesehenen Beruf gehabt hätte, wie Reisekauffrau oder Modedesignerin. Aber sie hatte es   – teils aufgrund eigener Entscheidungen, teils wegen Bedingungen, die zu beeinflussen nicht in ihrer Macht lag   – immer nur zu niederen, miserabel bezahlten Jobs ohne irgendwelche Absicherungen wie Renteneinzahlungen oder sonstige Vergünstigungen gebracht: Kellnerin, Verkäuferin, Callcenter, Zeitarbeit. Die Stelle bei
Commercial Couriers
, die sie schließlich ergatterte, schien daher fast so etwas wie ein Volltreffer zu sein. Okay, sie war weder hip noch sonst irgendwie glamourös. Aber zumindest war sie anders.
    Die Firma
Commercial Couriers
firmierte unter »Lieferservicefür alles und jeden«, machte ihr Hauptgeschäft allerdings damit, verloren gegangenes Gepäck zu transportieren. Sie hatten ein kleines Büro am Flughafen, wo selbst Koffer und Taschen, die in die falsche Stadt verfrachtet oder ins falsche Flugzeug verladen worden waren, unweigerlich irgendwann enden würden; dann übernahm einer der Kuriere von
Commercial Couriers
und lieferte das Gepäck bei der richtigen Adresse ab, sei es in einem Hotel oder einer Privatwohnung.
    Vor
Commercial Couriers
hatte meine Mutter als Empfangsdame bei einer Versicherung gearbeitet, ein Job, den sie besonders hasste, weil sie dabei genau die zwei Dinge tun musste, die sie am meisten verabscheute: früh aufstehen und mit Leuten umgehen. Nachdem ihre Chefs ihr nach sechs Monaten gekündigt hatten, verbrachte sie ein paar Wochen damit, auszuschlafen und vor sich hin zu grummeln. Erst dann widmete sie sich mal wieder den Stellenanzeigen, wo sie das Angebot von
Commercial Couriers
entdeckte. »KURIERFAHRER GESUCHT« stand da. »ARBEITEN SIE UNABHÄNGIG UND WANN SIE MÖCHTEN, TAGSÜBER UND NACHTS«. Eine Arbeit als okay oder gar perfekt zu bezeichnen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, aber diese Stellenbeschreibung kam, zumindest auf den ersten Blick, der Sache ziemlich nah. Deshalb rief sie an, um einen Termin für ein Vorstellungsgespräch zu vereinbaren. Zwei Tage später hatte sie den Job.
    Beziehungsweise
wir
hatten ihn. Denn meine Mutter hatte, ehrlich gesagt, kein sonderlich gutes Orientierungsgefühl. Anders ausgedrückt: Sie fand nichts beim Fahren. Dass sie zum Beispiel ständig rechts und links miteinander verwechselte (was ich mir in Ermangelung einer besseren Theorie mit ihrer leichten Legasthenie zu erklären versuchte),wäre bei einer Arbeit, bei der man ständig irgendwelche schriftlichen Wegbeschreibungen befolgen musste, auf jeden Fall zu einem ziemlichen Problem geworden. Doch glücklicherweise begann ihre Schicht erst um fünf Uhr nachmittags, was bedeutete, ich konnte mitfahren. Allerdings war ich zunächst wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese Regelung bloß für ein paar Tage gelten würde, also bis sie sich besser zurechtfand und überhaupt an die neue Arbeit gewöhnt hatte. Doch nichts dergleichen   – ehe ich michs versah, waren wir Kolleginnen: Acht Stunden pro Tag, fünf Tage pro Woche hockten wir Seite an Seite in ihrem verbeulten Subaru und brachten Menschen ihr Gepäck wieder.
    Unsere Abende begannen stets am Flughafen. Nachdem die Taschen und Koffer im Auto verstaut worden waren, gab sie mir die Liste mit Adressen und Wegbeschreibungen, und los ging’s, zunächst zu den nahe gelegenen Hotels, dann weiter und weiter weg in die

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