About Ruby
Aber du bist nicht mehr für Mama verantwortlich, okay? Wir können nichts für sie tun. Deshalb müssen wir uns um uns selbst kümmern. Und umeinander, okay?«
Meine Mutter. Logo. Cora ging intuitiv davon aus, dass ich von unserer Mutter sprach. Denn wen oder was gab es denn schon außer ihr? Nie wieder würde ich einen solchen Verlust erleben, oder? Nichts war damit zu vergleichen. Rein gar nichts.
Cora stand hinter mir. Redete immer weiter. Durch meinen Tränenschleier hindurch hörte ich, wie sie mir versicherte, alles werde gut. Ich wusste, sie war davon überzeugt. Aber auch ich war von etwas überzeugt: dass es nämlich viel einfacher ist, sich zu verlieren – im wahrsten Sinne des Wortes ein Verlorener zu sein –, als gefunden zu werden. Es ist der Grund, warum wir eigentlich immer auf der Suche sind, aber selten entdeckt werden. Uns öffnen, durch jemand anderen offen werden. So viele Schlösser, so wenige Schlüssel.
Kapitel fünfzehn
»Wie Sie sehen, arbeite ich meistens mit Silber und setze mit Halbedelsteinen Akzente.« Harriet ging durch ihren Laden, gestikulierte nach rechts, nach links. »Manchmal verwende ich auch Gold, finde es als Material aber nicht so inspirierend.«
»Aha.« Die Reporterin machte sich eifrig Notizen. Der Fotograf, ein langer Lulatsch mit Schnurrbart, arrangierte eine der Schlüsselanhängerketten auf einem kleinen Gestell in der Auslage und drückte ein paar Mal auf den Auslöser. »Und wie lange betreiben Sie Ihr Geschäft schon in diesem Einkaufszentrum?«
»Seit sechs Jahren.« Auch das schrieb die Frau sich auf. Harriet, die ziemlich aufgeregt wirkte, blickte zu Reggie und mir herüber. Wir standen vor seinem Lädchen. Ich hob ermutigend den Daumen. Sie nickte, wandte sich dann wieder der Reporterin zu.
»Sie macht das toll«, meinte Reggie und fuhr seelenruhig fort, eine Pyramide aus Plastikflaschen mit Omega- 3-Kapseln zu bauen – das Herzstück seiner neuen Schaufensterauslage unter dem Motto FISCH MACHT FIT. »Keine Ahnung, warum sie so nervös war.«
»Typisch Harriet eben«, meinte ich. »Wann ist sie nicht nervös?«
Er seufzte. Stellte behutsam eine weitere Flasche auf den Stapel. »Es liegt am Koffein. Wenn sie endlich damit aufhören würde, würde sich ihr ganzes Leben ändern. Davon bin ich überzeugt.«
Harriets Leben
änderte
sich bereits, doch das hatte nichts mit Kaffee zu tun. Es lag vielmehr an den Schlüsselcolliers – seit Weihnachten nannte sie die Teile so –, von denen wir mittlerweile mehr verkauften als von allem anderen Schmuck, den wir führten, und die sich zu so etwas wie einer kleinen Sensation entwickelt hatten. Wir hatten plötzlich Kunden aus Städten in der Nähe, die extra deswegen angereist kamen. Ganz zu schweigen von Anrufen aus benachbarten Bundesländern: Man erkundigte sich, ob wir unsere Ware auch verschickten (ja, taten wir) oder eine Website hätten (in Arbeit, müsste bald im Netz stehen). Wenn sie keine Telefonate führte oder Anfragen beantwortete, war Harriet eifrig damit beschäftigt, weitere Schlüsselcolliers herzustellen; sie experimentierte mit unterschiedlichen Formen, Größen, Steinen. Versuchte außerdem, das Konzept auf Armreifen und Ringe auszuweiten. Je mehr sie produzierte, umso mehr verkaufte sie. Ich hatte das Gefühl, dass an meiner Schule schon fast jedes Mädchen so ein Ding um den Hals trug. Ein ziemlich schräges Gefühl, um es gelinde auszudrücken.
Die Reporterin arbeitete für die Lokalzeitung, genauer gesagt für die Design-Seite. Harriet hatte sich die ganze Woche über auf das Interview vorbereitet, neue Stücke hergestellt und uns beide zu permanenten Überstunden gezwungen, um sicherzugehen, dass der Laden eins a aussah. Nun schauten Reggie und ich fasziniert zu, wie die Reporterin Harriet aufforderte, sich vor ihrer Boutique in Positur zu stellen und freundlich in die Kamera zu blicken. Sie trugmittlerweile ein mit Strass besetztes Schlüsselcollier um den Hals.
»Sieh dir das an«, sagte ich. »Sie ist ein Superstar.«
»Allerdings.« Und Reggie stellte noch eine Flasche auf die Pyramide. »Aber das liegt nicht an ihrer plötzlichen Berühmtheit. Harriet war schon immer etwas Besonderes.«
Er sagte das so nüchtern, so beiläufig, dass es mir fast das Herz brach. »Warum sprichst du nicht einfach mit ihr?«, fragte ich. Er öffnete einen weiteren Karton mit Ware. »Über deine Gefühle, meine ich?«
»Hab ich«, erwiderte er.
»Im Ernst? Wann?«
»Irgendwann um
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