About Ruby
entgegnete ich. Sie wandte sich wieder ihrer Sitznachbarin zu, die nach wie vor eifrig auf sie einredete. Einer spontanen Eingebung folgend, holte ich das Wechselgeld vom Mittagessen in der Cafeteria aus meiner Tasche – ein paar Dollar, mehr nicht –, trat noch einmal rasch an den Tisch zurück, steckte die wenigen Münzen und Scheine in das Glas, auf dem »Rettet unsere Küsten« stand. Aufs große Ganze gesehen, war das nicht viel. Trotzdem fühlte ich mich danach ein bisschen besser.
Es gab noch andere kleine, ermutigende Erlebnisse. Denn obwohl ich Nate nicht hatte helfen können, musste ich nicht lange suchen, um jemanden zu finden, der von meiner veränderten Einstellung profitierte. Anders gesagt: Ich brauchte nur an den Tisch zu gehen, an dem ich jedenMittag von fünf nach zwölf bis Viertel nach eins hockte. Denn wer machte sich dort seit Neuestem Tag für Tag, in jeder Pause, breit? Gervais.
»Vergiss die Potenzregel nicht.« Mit seinem Bleistift deutete er auf eine Stelle in meinem Mathebuch. »Sie ist der Schlüssel zu allem, was wir hier treiben.«
Seufzend versuchte ich, den dumpfen Nebel in meinem Kopf zu verscheuchen. Eines musste ich jedenfalls mittlerweile zugeben: Gervais war tatsächlich ein guter Lehrer. Schon jetzt begriff ich wesentlich mehr als vorher, als wir noch nicht mit der Nachhilfe begonnen hatten, und auch mehr als morgens in dem offiziellen Tutorium vor Unterrichtsbeginn; dort durfte man zwar Fragen stellen, was jedoch nicht automatisch bedeutete, dass man die Antworten auch verstand. Andererseits gab es Dinge, die meine Konzentration störten. Zunächst hatte das Problem darin bestanden, dass ich ziemlich nervös war, wie Gervais sich Olivia gegenüber verhalten würde. Denn wenn er rübergekommen wäre wie ein liebeskranker Kater oder eine Klette oder sonst was, hätte sie womöglich Verdacht geschöpft und wäre – zu Recht – sauer auf mich geworden. Wie sich allerdings herausstellte, war das nicht der Fall. Im Gegenteil, inzwischen war vielmehr ich das fünfte Rad am Wagen.
»Also, die Potenzregel . . .« Olivia klappte ihr Handy auf. »Die Ableitung einer beliebigen Variablen (x) vom Exponenten (n) ist gleich dem Produkt von Exponent und Variablen zur Potenz (n-1).«
Ich verkniff mir vorsichtshalber jeglichen Kommentar.
»Absolut richtig.« Gervais strahlte. »Siehst du? Olivia hat es kapiert.«
Logo, dass sie es kapiert hatte. Denn wie sich herausstellte, war Olivia ein kleines Differenzial-Genie. Hatte esin unserer kurzen Freundschaft allerdings nie für nötig befunden, das zu erwähnen. Seit sich jedoch Gervais in jeder Mittagspause zu uns gesellte, schwebten die beiden im siebten Mathehimmel. Das heißt, falls sie sich zufällig nicht gerade über eins der Myriaden ominöser Themen unterhielten, für die sich beide brennend interessierten. Unter anderem (aber die folgenden Beispiele sind bei Weitem nicht erschöpfend) Filme – sie waren beide absolute Kinofreaks –, welche Hauptfächer man am besten wählte, wenn man aufs College ging, sowie natürlich meine Wenigkeit. Anders ausgedrückt: Sie liebten es, an mir rumzukritteln.
»Was geht da eigentlich ab zwischen euch?«, hatte ich Olivia vor Kurzem gefragt, nachdem Gervais sich am Ende der Mittagspause von uns verabschiedet und ich meine Zeit abwechselnd damit zugebracht hatte, mich mit der Potenzregel herumzuschlagen oder mit offenem Mund zuzuhören, während die zwei sich gegenseitig Szenen eines aktuellen Science-Fiction-Blockbusters erzählten und einander dabei an Details zu überbieten suchten. Sie wussten sogar, was
nach
dem Abspann passierte.
Olivia beantwortete meine Frage mit einer Gegenfrage: »Was meinst du?« Wir liefen gerade quer über den Schulhof. »Ich finde ihn eben nett.«
»Ich muss dir etwas beichten«, entgegnete ich. »Er steht auf dich.«
»Ich weiß.«
Sie sagte das so beiläufig, so sachlich, dass ich vor lauter Verblüffung beinahe stehen geblieben wäre. »Du weißt Bescheid?«
»Klar. Ist nicht zu übersehen, oder?«, meinte sie. »Er taucht in sämtlichen meiner Schichten im
Vista
auf. Drücktsich dann immer länger als nötig da rum. Dezent ist etwas anderes, würde ich meinen.«
»Er möchte dein Freund sein, was auch immer er sich darunter vorstellt«, antwortete ich. »Und hat mich gebeten, es für ihn einzufädeln.«
»Und du?«
»Ich habe natürlich Nein gesagt«, meinte ich. »Aber stattdessen vorgeschlagen, er könne mir in der Mittagspause
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