About Ruby
Mathenachhilfe geben. Und dass du, na ja, wahrscheinlich auch dabei sein würdest, rein zufällig.«
Den letzten Satz brachte ich ziemlich hastig und abgehackt vor, da ich mich innerlich bereits darauf gefasst machte, ihre Vorwürfe abwehren zu müssen. Zu meiner Überraschung schien diese Eröffnung sie jedoch nicht weiter zu beeindrucken. »Wie schon gesagt, ich finde ihn nett.« Ein Achselzucken. »Außerdem ist die Situation hier an der Schule bestimmt nicht leicht für ihn.«
Aha
, dachte ich; denn das erinnerte mich schwer an das, was sie einmal zu mir in puncto Gemeinsamkeiten – die uns verbanden – gesagt hatte. Wer hätte geglaubt, dass auch Gervais in diese Kategorie fallen würde? »Ja, du hast vermutlich recht«, meinte ich.
»Außerdem ist ihm sonnenklar, dass zwischen uns nichts laufen wird«, fuhr sie fort.
»Bist du sicher, er weiß das auch?«
Nun blieb wiederum sie stehen. Musterte mich scharf. »Wieso?«, fragte sie. »Hältst du mich für unfähig, die Dinge klar auszudrücken?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das kannst du sehr gut.«
»Allerdings.« Sie lief weiter. »Wir wissen beide, wo die Grenzen unserer Freundschaft sind. Das versteht sich von selbst, ohne dass es groß ausgesprochen werden müsste. Undsolange wir uns beide damit wohlfühlen, wird niemand verletzt. Ganz simpel.«
Simpel
, dachte ich.
Wie die Potenzregel
.
Sogar wenn man die Differenzialrechnung mal außen vor ließ – ich wunderte mich ziemlich über mich selbst. Immerhin hatte ich meinen Teil der Vereinbarung, die ich mit Jamie getroffen hatte, nicht nur eingehalten, sondern meine Bewerbungsunterlagen für diverse Colleges Ende Januar sogar einigermaßen zuversichtlich losgeschickt. Weil meine Gesamtnote mir die größten Kopfschmerzen bereitete, hatte ich mich umso stärker darauf konzentriert, die übrigen Unterlagen in einen eins-a-Zustand zu bringen; angefangen bei meinen Hausarbeiten und Aufsätzen bis hin zu den Referenzen, die ich von Lehrern bekam. Schlussendlich bewarb ich mich an drei Hochschulen: der staatlichen Uni, an der auch Cora und Jamie studiert hatten und die im Nachbarort lag; einem kleineren College mit Schwerpunkt Kunst, Theater, Musik in den Bergen, das
Slater-Kearns
hieß; und – ein echter Schuss ins Blaue – an der
Defriese University
in Washington DC. Alle drei waren meiner Studienberaterin Mrs Pureza zufolge dafür bekannt, dass sie »ungewöhnliche« Schüler wie mich nicht gleich auf den ersten Blick aussortierten, sondern ihre Aufnahme durchaus in Erwägung zogen. Was hieß, dass ich möglicherweise eine reale Chance hatte – eine Vorstellung, die mich zuweilen in totale Panik versetzte. Ich hatte die Zukunft herbeigesehnt, seit ich denken konnte, praktisch mein ganzes Leben lang. Nun, da sie unmittelbar bevorstand, merkte ich, dass mir Bedenken kamen. Dass ich unsicher wurde, ob ich wirklich schon dafür bereit war.
Andererseits war das Schuljahr natürlich noch längst nicht vorbei. Ein Gedanke, mit dem ich mich selbst zu beruhigen versuchte; vor allem, wenn ich mir so anschaute,wie weit das Projekt für meinen Englischkurs gediehen war. Eines Tages hatte ich sämtliches Material, das ich bis dahin gesammelt hatte, auf meinem Schreibtisch ausgebreitet, in der Hoffnung, wenn ich es ordnen würde, überkäme mich vielleicht endlich so etwas wie eine Eingebung, was ich damit bloß anstellen könnte. Da lagen sie vor mir, die endlosen Blätter mit Notizen; rechts und links davon stapelweise Bücher zu dem Thema (Familie/mündliches Erzählen), in denen jede Menge Seiten markiert waren; an der Wand darüber hingen Zettel mit Zitaten, die ich dort hingeklebt hatte. Ich gewöhnte mir an, mich nach dem Abendessen oder wenn ich nicht bei Harriet arbeitete, an meinen Schreibtisch zu setzen, jedes Fitzelchen Papier systematisch durchzugehen. Und auf die zündende Idee zu warten.
Bis jetzt allerdings vergeblich. Im Gegenteil, das Einzige, was einer Inspiration ansatzweise nahekam, war das Foto von Jamies Familie, das ich mir aus der Küche genommen und ebenfalls – direkt in Augenhöhe – an die Wand gepappt hatte. Ich hatte oft das Gefühl, Stunden damit zuzubringen, einfach bloß dazuhocken und jedes Gesicht einzeln zu betrachten. Als würde mir eins von ihnen plötzlich zurufen, wonach ich suchte.
Was bedeutet Familie?
Für mich, zumindest zurzeit: ein Mensch, der mich verlassen hatte, sowie zwei weitere Menschen, die ich wiederum bald würde
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