About Ruby
aufmunternden, anregenden Worte, keine Erklärungen. Nichts. Ich sah mich um: Die meisten meiner Mitschüler schrieben noch eifrig vor sich hin; Ms Gooden blätterte durch eine Modezeitschrift; zu guter Letzt fiel mein Blick auf die Uhr. Fünf Minuten noch. Ich schloss die Augen.
Ein leeres Zimmer, hatte Gervais gemeint. Zunächst versuchte ich, mir weiße Wände und einen Holzfußboden vorzustellen, einen ganz unspezifischen Raum im Irgendwo. Doch während sich mein hektischer Geist allmählich beruhigte, veränderte sich das Bild vor meinem inneren Auge allmählich: Eine Tür öffnete sich, dahinter erschien ein Zimmer, das mir bekannt vorkam. Allerdings gehörte es nicht ins gelbe Haus, auch nicht in Coras. Gegenüber der Tür lag eine Glasfront mit vielen hohen Fenstern, rechts ein Schlafzimmer mit einer Daunendecke frisch aus der Reinigung; außerdem standen dort mehrere fast neue, fast nie benutzte Sofas. Es handelte sich streng genommen also nicht um ein leer-leeres Zimmer. Doch es fühlte sich so an. Leer. Und während ich in meiner Vorstellung meinen Blick durch diesen Raum wandern ließ, alle Einzelheiten in mich aufnahm, entdeckte ich unvermittelt ein letztes Detail: Auf einer Arbeitsplatte in der Küche lag der Kronkorken einer Ginger-Ale-Flasche, den jemand absichtlich dort hatte liegen lassen hatte, damit er gefunden wurde.
Ich riss die Augen auf. Betrachtete die letzte unbeschriebene, leere Stelle auf der letzten Seite meiner Matheabschlussarbeit. Das Problem war noch immer nicht gelöst.Mir blieben drei Minuten. Rasch kritzelte ich eine Lösung hin, ohne nachzudenken, einfach aus dem Bauch raus. Gab meine Arbeit vorne bei Ms Gooden ab, stürzte aus dem Raum, über den Schulhof, auf den Parkplatz, zu Jamies Auto. Im Wegfahren hörte ich gerade noch in der Ferne, wie es leise, aber anhaltend zur Pause klingelte.
***
In der besten aller Welten hätte ich mich nicht bloß daran erinnert, wo das Gebäude war und bis zu welcher Etage man den Aufzug nehmen musste, sondern auch an die Nummer des Apartments. Doch weil es nicht die beste aller, sondern meine persönliche Welt war, stand ich auf dem Gang im siebten Stock und hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, denn die Türen sahen alle gleich aus. Schließlich lief ich einfach ein Stück den Flur entlang, etwa bis zur Hälfte, und begann, an jeder Tür zu klingeln.
Falls jemand aufmachen würde, konnte ich einfach behaupten, ich habe mich geirrt, und mich entschuldigen. Doch an der sechsten Tür geschah etwas anderes. Niemand öffnete, allerdings hörte ich von innen ein Geräusch. Intuitiv – von mir aus auch im Zen-Modus – streckte ich die Hand aus, drehte am Türknopf. Ein Schlüssel wäre nicht nötig gewesen: Die Tür schwang wie von selbst auf.
Der Raum war genau so, wie ich ihn mir während der Matheprüfung vorgestellt hatte. Unbenutzte Sofas, aufgeräumte Arbeitsflächen in der Küche, der Kronkorken an exakt derselben Stelle wie beim ersten Mal. Nur eins war anders: Über einer Stuhllehne in der Küche hing ein
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Ich nahm es, hielt es mir vors Gesicht, atmete den Geruch nach Chlor, nach Wasser ein. Nach Nate. DerGeruch blieb haften, während ich aufblickte. Und ihn endlich entdeckte.
Er stand mit dem Rücken zu mir auf dem Balkon, seine Hände umklammerten das Geländer. Er stand einfach ganz still dort draußen, obwohl es bitterkalt war. So kalt, dass ich spürte, wie die Eisluft durch die Fensterscheiben drang, während ich mich ihnen näherte. Ich streckte die Hand nach dem Türgriff aus, um die Tür beiseitezuschieben, hielt jedoch plötzlich angespannt inne. Wie fängt man das an? Zu jemandem zurückzukehren? Ganz zu schweigen davon, wie man ihn überredet, das Gleiche für einen selbst zu tun? Keine Ahnung, echt. Umso entscheidender war es daher, darauf zu vertrauen, dass mir die Antworten auf diese Fragen schon rechtzeitig einfallen würden. Die Art von Vertrauen in mich selbst und meine Intuitionen war tatsächlich noch nie so wichtig gewesen wie in diesem Moment. Ich schob die Tür auf.
Nate fuhr zu mir herum. Ich hatte ihn offensichtlich ziemlich erschreckt. Seine Gesichtszüge entspannten sich erst ein wenig, als er merkte, dass ich es war. Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Flecken auf seinen Wangen, seinem Kinn längst entdeckt – rot, violett, zunehmend blau. Es kommt ein Punkt, an dem man nichts mehr leugnen, verdrängen, verbergen kann. Nicht einmal vor sich selbst.
»Ruby! Was tust du
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