About Ruby
nicht, dir bei den ersten Aufgaben Zeit zu lassen, selbst wenn sie dir leicht erscheinen sollten«, fuhr er fort. »Du musst dein Gehirn langsam auf Touren bringen. Es auf die schweren Geschütze vorbereiten.«
Ich nickte stumm. Es hatte ja doch keinen Zweck, sich zu wehren.
»Wenn du merkst, dass du Schwierigkeiten mit der Potenzregel hast, denk an das Akronym, über das wir gesprochen haben. Schreib es dir auf das Blatt mit den Aufgaben, damit du es immer vor Augen hast.«
»Ich muss da jetzt rein«, sagte ich.
»Und wenn du das Gefühl hast, stecken zu bleiben«, fuhr Gervais unerbittlich fort – obwohl meine Mathelehrerin, Ms Gooden, bereits einen Stapel Blätter in die Hand nahm, geräuschvoll damit raschelte und sich daranmachte, sie auszuteilen – »mach dir den Kopf frei. Stell dir ein leeres Zimmer vor. Lass dein Gehirn darin herumspazieren. Irgendwannfällt dir die Lösung schon ein. Und zwar genau im richtigen Moment.«
Er ratterte die letzten Worte förmlich herunter – nicht besonders Zen-gemäß –, weil es bereits klingelte und er seine letzten Tipps noch unbedingt loswerden wollte. Ich sah ihn an. Sah ihm, im Grunde zum ersten Mal an diesem Morgen, richtig ins Gesicht. Und obwohl mir der Kopf nur so schwirrte, ich mit meinen Gedanken überall und nirgends war, dämmerte mir plötzlich, dass ich ihm eigentlich dankbarer sein sollte. Klar, er hatte so etwas wie einen Kuhhandel mit mir geschlossen und mir außerdem zweimal pro Woche eine Rechnung gestellt (zwanzig Dollar die Stunde), auf einem vorgedruckten Formular mit Briefkopf (kein Witz). Aber in letzter Minute aufzutauchen, um mir noch mal die wichtigsten Verhaltensregeln einzubläuen? Das gehörte nicht mehr zum Service, sondern ging weit darüber hinaus. Selbst bei einer so bewährten, mehrgleisigen und komplexen Lehr- oder auch Lernmethode (je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtete) wie seiner.
»Danke, Gervais«, sagte ich.
»Geschenkt«, erwiderte er. »Hol dir die Eins minus und versau mir nicht meine Erfolgsstatistik.«
Ich nickte, ging ins Klassenzimmer, setzte mich an mein Pult. Als ich noch mal Richtung Tür blickte, sah ich, dass er weiterhin davorstand und mich aufmerksam beobachtete. Jake Bristol, der, verpennt wie immer, auf der mir gegenüberliegenden Gangseite saß, beugte sich rüber, stupste mich an. »Was läuft zwischen dir und Miller?«, erkundigte er sich. »Stehst du auf Sex mit Minderjährigen?«
Ich verdrehte die Augen. Idiot. »Nein, er ist einfach ein guter Freund.«
Ms Gooden trat an meinen Tisch, lächelte mich an, legte die Blätter mit den Prüfungsaufgaben vor mich hin, Vorderseite nach unten. Sie war eine große, hübsche Frau mit langen blonden Haaren, die sie im Eifer des Gefechts – wenn sie die Tafel mit Zahlen, Formen und Theoremen bedeckte – gern mit einem Bleistift hochsteckte. »Viel Glück«, meinte sie. Ich drehte das Blatt um.
Im ersten Moment des Draufschauens sank mir das Herz in die Kniekehle; ich fühlte mich vollkommen überfordert. Doch zum Glück fiel mir bald wieder ein, was Gervais mir geraten hatte, nämlich: mir Zeit zu lassen, mein Gehirn langsam auf Touren zu bringen. Ich nahm meinen Bleistift und legte los.
Die erste Aufgabe war leicht. Die zweite schon ein wenig schwieriger, aber immer noch ganz gut zu bewältigen. Doch erst, als ich am Ende der ersten Seite ankam, kapierte ich langsam, dass ich es – irgendwie, wie auch immer – tatsächlich tat: Ich schrieb die wichtigste Mathearbeit meines bisherigen Lebens. Behutsam tastete ich mich von Aufgabe zu Aufgabe vor. Befolgte einen weiteren von Gervais’ Ratschlägen, indem ich mir die Potenzregel an den Rand kritzelte:
Die Ableitungeiner beliebigen Variablen (x) vom Exponenten (n) ist gleich dem Produkt von Exponent und Variablen zur Potenz (n-1)
. Ich hörte Olivias Stimme in meinem Kopf, welche die Regel lässig runtergebetet hatte, genauso wie ich Gervais’ Stimme hören konnte. Jedes Mal, wenn ich nicht weiterwusste, zögerte, wiederholte er vor meinen geistigen Ohren Schritt für Schritt seine Anweisungen, immer wieder.
Als ich bei der letzten Problemstellung angekommen war, blieben mir noch zehn Minuten. Und diese Aufgabe bereitete mir tatsächlich mehr Kopfzerbrechen als alle bisherigen.Ich starrte auf die Zahlen und Zeichen und spürte, wie Panik mich überfiel. Von ganz tief unten stieg langsam die Angst in mir auf. Doch dieses Mal erklangen keine Stimmen, keine
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