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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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sie mir vorsang, selbst erfunden; deswegen war es auch ein so merkwürdiges Gefühl, sie später zum ersten Mal im Radio zu hören. Als würde man plötzlich merken, dass ein Teil von einem selbst gar nicht zu einem gehörte. Und irgendwann begann ich mich zu fragen, worauf sonst ich womöglich keinen Besitzanspruch hatte. Aber das kam erst später. Damals ging es nur um die Lieder, die trotz allem unsere waren, niemandes sonst.
    Man konnte die Lieder meiner Mutter in drei Kategorien aufteilen: Liebeslieder, traurige Lieder und traurige Liebeslieder. Happy Ends waren nicht ihr Ding. Deshalb schlief ich zu
Frankie and Johnny
und einer unglücklichen Liebesgeschichte ein, zu
Don’t Think Twice, It’s Alright
und einer schmutzigen Trennung oder zu
Wasted Time
und jemandem, der voll Bedauern Bilanz zog. Aber am stärksten erinnerte ich mich bei
Angel From Montgomery
in Bonnie Raitts Version an sie, damals und bis heute.
    Der Song hatte alle Ingredienzien, auf die meine Mutter bei einem Lied Wert legte   – ein gebrochenes Herz, Desillusionierung, Tod; davon wurde aus der Perspektive einer alten Frau erzählt, die einsam und allein auf ihr Leben zurückblickte, auf alles, was sie gehabt und verloren hatte. Wobei ich damals im Grunde keine Ahnung hatte, worum es genau ging; für mich waren es bloß Worte zu einer hübschenMelodie, die von einer mir sehr lieben und vertrauten Stimme gesungen wurde. Erst später, als ich in einem anderen Bett lag, während sie spät nachts im Nebenzimmer sang, konnte ich nicht mehr einschlafen, wenn ich ihre Stimme und diesen Song hörte, sondern hörte voller Sorge zu. Seltsam, dass man mit einem so schönen Lied eine so schreckliche Geschichte erzählen kann. Es erschien mir irgendwie unfair, wie ein ganz mieser Trick.
    Wenn man meine Mutter auf das Thema ansprach, antwortete sie, dass nichts in ihrem Leben wie geplant gelaufen war. Sie sollte eigentlich aufs College gehen, ihren Abschluss machen und ihren Schulfreund heiraten, Ronald Brown, Ballträger im Highschool-Footballteam, aber seine Eltern fanden, dass die Beziehung der beiden für ihren Geschmack schon viel zu eng geworden war, und zwangen ihn daher, mit ihr Schluss zu machen, kurz vor Weihnachten in ihrem dritten Highschool-Jahr. Sie war völlig fertig und ließ sich deshalb von ihren Freunden zu einer Party mitschleifen, wo sie niemanden kannte und von einem Typen angequatscht wurde, der gerade mit dem Ingenieursstudium an der Middletown Tech angefangen hatte. In einer mit Bierflaschen übersäten Küche laberte er sie über Hängebrücken und Wolkenkratzer voll, »die Wunderwerke der Baukunst«, während sie sich zu Tode langweilte. Ich habe nie begriffen, warum sie sich dennoch darauf einließ, mit ihm auszugehen, mit ihm zu schlafen und meine Schwester zu zeugen, die neun Monate später geboren wurde.
    Deshalb hockte meine Mutter mit achtzehn daheim, inklusive Ehemann und Neugeborenem, während ihre Mitschüler ihren Highschool-Abschluss machten. Andererseits scheinen diese ersten Jahre nicht nur übel gewesen zu sein,zumindest wenn man von den Fotos aus dem Familienalbum ausgeht. Es gibt massenweise Bilder von Cora im Spielhöschen oder mit Schäufelchen oder auf dem Dreirad vor dem Haus. Auch meine Eltern tauchen auf diesen Fotos auf, allerdings nicht so häufig und selten gemeinsam. Trotzdem gibt es immer mal wieder zwischendurch Schnappschüsse von ihnen, auf denen er den Arm um ihre Schulter oder Taille legt: meine Mutter, jung und wunderschön, mit ihren langen roten Haaren und ihrer blassen Haut, mein Vater mit seinen hellblauen Augen und seinen dunklen Haaren.
    Wegen des großen Altersunterschieds zwischen Cora und mir   – zehn Jahre   – habe ich mich oft gefragt, ob ich nur aus Versehen passiert bin oder vielleicht auch aus einer verzweifelten Anstrengung heraus, eine Ehe zu retten, mit der es längst bergab ging. Mein Vater verließ uns jedenfalls, als ich fünf war und meine Schwester fünfzehn. Damals wohnten wir in einem richtigen Haus in einer anständigen Gegend; und als wir eines Nachmittags vom Schwimmbad heimkamen, saß meine Mutter mit einem Weinglas auf dem Sofa. Für sich genommen, war nichts davon ungewöhnlich. Sie arbeitete zu dem Zeitpunkt nicht, und obwohl sie normalerweise wartete, bis mein Vater abends nach Hause kam, und sich erst dann einen Drink genehmigte, fing sie damit manchmal auch schon ohne ihn an. Was uns allerdings sofort auffiel, war die Musik. Und dass meine Mutter laut

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