About Ruby
allmählich auf, als ich in die siebte, achte Klasse kam. Das wichtigste, ausschlaggebende Anzeichen dafür, wie sie drauf war, blieb allerdings ihr Singen. Sie singen zu hören, war Grund genug, vor einer Tür stehen zu bleiben, zu zögern, den Raum zu betreten, sich ins Halbdunkel zurückzuziehen.Egal, wie schön ihre Stimme klang, während sie sich an den Melodien entlanghangelte, die ich auswendig kannte – mir war immer bewusst, dass darunter etwas anderes lauern konnte, etwas Hässliches.
Zu dem Zeitpunkt war Cora längst weg. Sie war eine Superschülerin gewesen, lernte nonstop, um ihre Chancen auf ein Stipendium – sie hatte sich gleich um mehrere beworben – zu erhöhen; außerdem jobbte sie ihre ganze Highschool-Zeit hindurch in dem mexikanischen Imbiss in der Nähe, wann immer es ging, um zusätzliches Geld fürs College zusammenzubekommen. Meine Schwester war extrem ehrgeizig und strukturiert; ihr Ausgleich für das Chaos in unserem Leben bestand darin, für sich selbst großen Wert auf Ordnung und Logistik zu legen. Im übrigen Haus mochte es noch so versifft, chaotisch und unordentlich sein – Coras Hälfte unseres Zimmers war immer picobello aufgeräumt, alles fein säuberlich zusammengefaltet und an seinem Platz. Ihre Bücher standen alphabetisch geordnet da, ihre Schuhe in Reih und Glied, ihr Bett war immer gemacht, die Kissen in einem exakten rechten Winkel zur Wand arrangiert. Manchmal, wenn ich im Bett saß oder lag, tat ich nichts weiter, als mich umzuschauen und über den Gegensatz zu wundern. Unser Zimmer war wie eins dieser Vorher-Nachher-Bilder oder wie ein umgekehrter Spiegel, bei dem – wenn man in ihn hineinsah – aus dem Besten das Schlimmste und der Prozess dann gleich wieder in sein Gegenteil verkehrt wurde.
Am Ende ergatterte sie ein Teilstipendium für das staatliche College in der Nachbarstadt und nahm einen Studentenkredit auf, um den Rest ihrer Studiengebühren und Kosten zu decken. Im Frühling und Sommer ihres letzten Schuljahrs, nachdem klar war, dass sie ihre Zulassung für dieUni in der Tasche hatte, vollzog sich eine eigenartige Veränderung mit uns, unserem Haus. Ich konnte sie deutlich spüren. Meine Schwester schien aufzutauen, wirkte unbeschwerter; dabei hatte sie bis dahin alles getan, was sie konnte, um meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, indem sie sich direkt nach der Schule zur Arbeit, anschließend sofort ins Bett und am nächsten Tag gleich wieder zur Schule begab. Doch jetzt kamen an den Wochenenden abends Leute vorbei, um sie abzuholen; ihre Stimmen drangen durch unsere geöffneten Fenster, während meine Schwester zu ihnen ins Auto stieg, und dann hörte man bloß noch das Geräusch des davondüsenden Wagens. Mädchen mit freundlichen, unbekümmerten Stimmen riefen an und fragten nach Cora; und obwohl sie das Telefon mit ins Bad nahm und die Tür schloss, konnte ich hören, dass auch ihre Stimme anders klang, wenn sie sich mit ihnen unterhielt.
Meine Mutter hingegen wurde stiller. Sie sagte nichts, als Cora mit Umzugskartons auftauchte, um ihre Sachen für die Uni zu packen, und langsam, aber sicher ihre Hälfte des Zimmers ausräumte. Währenddessen saß meine Mutter nur schweigend auf der seitlichen Veranda, an jenen langen, dämmrigen Sommerabenden, rauchte und starrte hinaus in den Garten. Keiner von uns sprach darüber, dass Cora ausziehen würde, doch je näher der Zeitpunkt rückte, umso deutlicher war die Veränderung wahrzunehmen, bis es mir so vorkam, als könnte ich meiner Schwester Minute um Minute dabei zusehen, wie sie sich von uns löste, befreite, hinauswirbelte, wie ein Geist, dessen Flasche endlich geöffnet wurde. Manchmal schreckte ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch, um mich zu vergewissern, dass sie schlafend in ihrem Bett lag; doch es war bloß eine vorübergehende,flüchtige Beruhigung, weil ich wusste, dass der Tag, an dem ich ihre Gestalt unter der Bettdecke dort nicht mehr sehen würde, unaufhaltsam näher rückte.
An dem Tag, an dem sie tatsächlich auszog, wachte ich mit Halsschmerzen auf. Es war ein Samstag. Ich half Cora, ihre Kartons und einige Koffer die Treppe hinunterzutragen. Meine Mutter blieb in der Küche und rauchte schweigend eine Zigarette nach der anderen; sie würdigte uns keines Blickes, während wir die wenigen Habseligkeiten meiner Schwester aus dem Haus schleppten und in den Kofferraum eines Jettas luden, der einem Mädchen namens Leslie gehörte. Ich hatte sie bis zu dem Tag noch
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