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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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mitsang. Zum ersten Mal fand ich das weder beruhigend noch schön, sondern fühlte mich dadurch wie aus der Bahn geworfen. Ihr Gesang machte mich nervös. Als würde ich urplötzlich ein Gewicht auf mir spüren, als würde mich die traurige Bedeutung all jener traurigen Lieder überwältigen, und zwar alle auf einmal, in ihrer ganzen, gemeinsamenSchwere. Von da an verhieß ihr Gesang nichts Gutes mehr.
    Ich kann mich verschwommen daran erinnern, dass ich meinen Vater auch nach der Scheidung noch gesehen habe. An den Wochenenden ging er mit uns frühstücken, unter der Woche manchmal abends zum Essen. Nie kam er ins Haus, nicht einmal an die Haustür, wenn er uns abholte; er hielt vorne an der Straße am Briefkasten an, blieb am Steuer sitzen und blickte stur geradeaus. Als würde er nicht auf uns warten, sondern auf irgendjemanden, und wenn ein Fremder eingestiegen und sich neben ihn gesetzt hätte, wäre es auch okay gewesen. Es fällt mir nicht leicht, ihn mir vorzustellen, wenn ich es heute mal versuche, und vielleicht liegt das an dieser distanzierten Haltung. Es gibt noch ein paar Erinnerungen an ihn, zum Beispiel, wie er mir vorliest, oder wie ich ihm beim Grillen im Garten zugeschaut habe. Aber sogar in diesen Momenten kommt es mir so vor, als wäre er selbst da schon nicht mehr richtig da gewesen, fern, distanziert, eine Art Geist.
    Ich weiß nicht mehr, wann oder warum er aufhörte, sich mit uns zu treffen. Ich kann mich an keinen besonderen Vorfall oder gar Streit erinnern. Als hätte es diese gemeinsamen Unternehmungen bis zu einem Punkt gegeben, und dann eben nicht mehr. Weil ich in der sechsten Klasse für die Schule einen Familienstammbaum machen musste, dachte ich eine Zeit lang sehr oft über ihn nach, vielmehr darüber, auf welch seltsam mysteriöse Weise er einfach verschwunden war. Ich kriegte das überhaupt nicht mehr aus meinem Kopf, und schließlich schaffte ich es, meiner Mutter zumindest so viel zu entlocken: Er war weit weggezogen, nach Illinois. Eine Weile hielt er sogar noch den Kontakt, aber nachdem er wieder geheiratet hatte und ein paarmalumgezogen war, ohne ihr seine Adressen mitzuteilen, löste er sich gleichsam in Luft auf. Wodurch sie keine Chance hatte, Alimente von ihm zu kassieren oder sonst irgendeine Form der Unterstützung zu erhalten. Außerdem machte sie mir jedes Mal, wenn ich sie mit Fragen über ihn löcherte, unmissverständlich klar, dass sie keine Lust hatte, über das Thema zu sprechen. Wenn jemand weg war, war er weg   – so sah meine Mutter das. Sie dachte keine Sekunde länger als nötig über die- oder denjenigen nach, das war in ihren Augen pure Zeitverschwendung. Und deshalb forderte sie das auch von allen anderen in ihrem Umfeld.
    Nachdem mein Vater ausgezogen war, hörte meine Mutter allmählich auf, sich um mich zu kümmern, was den Alltag betraf; das   – mich morgens wecken, dafür sorgen, dass ich mich anzog, mir Frühstück machen, mich zur Bushaltestelle begleiten, mir sagen, dass ich mir die Zähne putzen soll   – übernahm stattdessen Cora als ihre Stellvertreterin. Was allerdings nie offiziell verkündet oder beschlossen wurde. Es passierte einfach. Genau wie die Veränderung, die mit meiner Mutter stattfand: Sie schlief mehr, lächelte weniger, sang mitten in der Nacht, wobei ihre Stimme zitterte, mich regelrecht verfolgte und irgendwie auch immer erreichte, da konnte ich mir die Ohren noch so fest zuhalten, mich an der Wand, an der mein Bett stand, zusammenrollen und versuchen, an etwas   – irgendetwas, Hauptsache etwas anderes   – zu denken.
    Cora wurde der Fixpunkt in meinem Leben, das Einzige, auf das ich mich verlassen konnte. Das Einzige, das immer da war, sich nicht veränderte, Tag für Tag. Wir teilten uns ein Zimmer, und nachts musste ich oft lange wach liegen und ihr beim Atmen zuhören, bevor ich selbst einschlafen konnte.
    Ich weiß noch, wie sie manchmal an der Tür stand, ich neben ihr, wir beide in unseren Nachthemden. Sie hielt das Ohr an die Tür, sagte: »Pscht.« Und ich beobachtete ihr Gesicht, während sie vorsichtig nach unten lauschte; versuchte herauszufinden, was unsere Mutter gerade trieb. Je nachdem, was sie hörte   – ob
klick!
ein Feuerzeug anging, Eiswürfel im Glas klirrten, der Telefonhörer abgehoben oder aufgelegt wurde   –, entschied sie, ob es ungefährlich für uns wäre, uns hinauszuwagen, um unsere Zähne zu putzen oder etwas zu essen, wenn meine Mutter wieder einmal vergessen hatte,

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