About Ruby
Abendessen zu machen. Falls sie schlief, nahm Cora mich an der Hand, und wir schlichen uns auf Zehenspitzen an ihr vorbei in die Küche, wo ich ein altes Plastiktablett hielt, während Cora es in Windeseile belud, mit Cornflakes und Milch oder meinem Lieblingsessen, Pizzatoast, wofür sie rasch ein paar Scheiben mit Tomatensoße und Käse belegte und im Grill überbackte. Leise glitt Cora dabei durch die Küche, und beide horchten wir angestrengt auf die regelmäßigen Atemzüge meiner Mutter im Wohnzimmer nebenan. Wenn es gut lief, konnten wir uns zurück nach oben in unser Zimmer verkrümeln, ohne dass sie aufwachte. Aber wenn sie plötzlich aus dem Schlaf fuhr, sich abrupt aufsetzte, das Gesicht ganz verknittert, ihre Stimme schwer – dann lief es nicht gut. »Was macht ihr beiden da?«, lallte sie.
»Nichts«, meinte Cora. »Wir holen uns nur schnell etwas zu essen.«
Manchmal – wenn sie zuvor wie eine Bewusstlose geschlafen hatte – würde es dabei bleiben. Doch nur manchmal. Sehr viel häufiger konnte ich hören, wie die Sprungfedern des Sofas quietschten, wie ihre Füße auf dem Dielenboden aufsetzten. Und genau in dem Moment hörteCora dann immer sofort mittendrin auf, egal was sie gerade tat – Brote schmieren, in der Handtasche meiner Mutter kramen, um Geld für unser Mittagessen am nächsten Tag herauszunehmen, die offene Weinflasche, an der das Kondenswasser herunterrann, auf der Arbeitsfläche so weit wie möglich nach hinten schieben –, und machte stattdessen das, was ich in meinen Erinnerungen am meisten und stärksten mit ihr verbinde, was so typisch für sie war: Meine Schwester stellte sich vor mich. Und blickte meiner Mutter entgegen, die nun auf sie zukam, genervt und streitlustig. Damals war Cora mindestens einen Kopf größer als ich. Und ich kann mich so gut an diese Momente erinnern, diese plötzliche Veränderung meines Blickwinkels: In einer Sekunde war das Bild, das sich mir bot, bedrohlich, und in der nächsten nicht mehr. Natürlich wusste ich nach wie vor, dass meine Mutter auf mich, auf uns zustürmte, behielt jedoch stattdessen unverwandt Cora vor mir im Auge: ihre dunklen Haare, ihre Schulterblätter, die scharf hervorstanden, die Art und Weise, wie sie nach hinten griff, mit ihrer Hand meine ertastete und schließlich umschloss – dann nämlich, wenn es wirklich schlimm wurde. Dann stand sie einfach da, während meine Mutter auf uns zukam, bereit abzufedern, was auch immer als Nächstes geschehen würde, die Wucht des Angriffs aufzufangen, so wie der Bug eines Schiffs gegen eine riesige Welle kracht und sie dennoch mühelos zerteilt, denn am Ende besteht sie doch nur aus Wasser.
Deshalb bekam Cora immer das meiste ab, von den brennenden Ohrfeigen oder den beidhändig ausgeführten Schubsern, durch die sie unvermittelt nach hinten taumelte; eine andere Spezialität meiner Mutter war, einen urplötzlich an den Armen zu ziehen und dabei so heftig zuzupacken,dass dicke rote Striemen entstanden, die sich später in blaue Flecke in der verräterischen Form von Fingerspitzen verwandelten. Diese Ausraster waren unberechenbar; ob und wann sie passierten, konnte man weder verstehen noch vorhersehen. Umso schwieriger war es deshalb, ihnen auszuweichen oder sie zu verhindern. Jedenfalls waren wir wach und trieben uns im Haus rum, wenn wir das nicht hätten tun sollen, oder wir machten zu viel Lärm, oder wir gaben die falschen Antworten auf Fragen, zu denen es offenbar sowieso keine richtigen Antworten gab. Wenn der Sturm vorüber war, ließ meine Mutter uns in der Regel kopfschüttelnd stehen und ging entweder zu ihrem Stammplatz auf dem Sofa zurück oder ins Bett. Und ich blickte Cora an, wartete auf ihre Entscheidung, was wir nun tun sollten. Ziemlich oft verließ auch sie dann den Raum, wobei sie sich die Tränen abwischte, und ich folgte ihr. Schweigend, aber dicht auf ihren Fersen. Ich fühlte mich einfach sicherer in ihrer Nähe, nicht nur, wenn sie sich wie ein Schutzschild zwischen unsere Mutter und mich stellte, sondern auch zwischen die Welt im Allgemeinen und mich.
Später entwickelte ich meine eigenen Methoden, um mit meiner Mutter klarzukommen. Ich lernte ihre Laune einzuschätzen, je nach Menge der Gläser und Flaschen, die bereits auf dem Tisch standen, wenn ich heimkam; oder nach der Art und Weise, wie sie die beiden Silben aussprach und betonte, aus denen mein Name besteht. Trotzdem steckte ich auch einiges an Schlägen ein; das Ganze hörte jedoch
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