About Ruby
nie gesehen und sah sie auch danach nie wieder.
»Na dann«, hatte Cora gemeint, als sie die Heckklappe zudrückte. »Ich schätze, das war alles.«
Ich blickte zum Haus zurück. Sah durch das vordere Fenster, wie meine Mutter die Küche durchquerte, um in die Vorratskammer zu gehen, und wieder herauskam. Und ich weiß noch, dass ich in dem Moment fest annahm, sie würde Cora natürlich nicht fahren lassen, ohne sich zumindest zu verabschieden – trotz allem, was geschehen war. Aber die Sekunden vergingen, die Minuten, sie näherte sich weder der Tür noch uns. Und nach einer Weile konnte ich sie nicht einmal mehr sehen, so angestrengt ich auch hinschaute.
Cora wiederum stand bloß da, Hände in den Taschen, und blickte ebenfalls zum Haus hinüber. Ob sie wohl auch wartete? Schließlich ließ sie die Hände sinken und atmete tief durch. »Bin gleich wieder da«, sagte sie. Leslie nickte. Wir sahen Cora gemeinsam nach, während sie aufs Haus zulief und darin verschwand.
Lange blieb sie nicht weg, vielleicht ein, zwei Minuten.Als sie wieder herauskam, hatte ihr Gesichtsausdruck sich nicht im Geringsten verändert. »Ich rufe dich heute Abend an«, sagte sie zu mir. Trat näher, umarmte mich fest. Ich weiß noch: Als ich ihr beim Wegfahren nachsah, war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich im Laufe der nächsten paar Stunden total krank werden würde – so weh tat mein Hals. Aber ich wurde nicht krank. Und die Halsschmerzen waren am nächsten Morgen vorbei.
Wie versprochen rief Cora am Abend an, auch am darauffolgenden Wochenende, einfach um sich zu melden und zu erkundigen, wie es mir ging. Beide Male hörte ich im Hintergrund Stimmengewirr und Musik. Sie erzählte mir, sie komme mit ihrer Zimmergenossin gut klar und fände die Seminare, die sie belegt habe, klasse, alles laufe also gut. Als sie mich fragte, wie es mir ging, hätte ich am liebsten geantwortet, wie sehr ich sie vermisste und dass meine Mutter seit ihrem Auszug sehr viel getrunken hätte. Aber da wir über das Thema nicht einmal von Angesicht zu Angesicht je wirklich offen geredet hatten, schien es jetzt, am Telefon, geradezu unmöglich, es anzusprechen.
Sie bat mich nie, meine Mutter ans Telefon zu holen; und meine Mutter ging auch nie ran, wenn Cora anrief. Als wäre ihre Beziehung rein geschäftlicher Natur gewesen, nur zusammengehalten durch einen Vertrag, der allerdings inzwischen abgelaufen war. So sah ich das, zumindest am Anfang. Bis wir einige Wochen später umzogen. Und meine Schwester überhaupt nicht mehr anrief. Da wurde mir klar, dass mein Name, irgendwo im Kleingedruckten versteckt, ebenfalls auf dem Vertrag gestanden hatte.
Lange Zeit gab ich mir selbst die Schuld daran, dass Cora den Kontakt zu uns abgebrochen hatte. Vielleicht wusste sie ja nicht, dass ich gern mit ihr in Verbindung geblieben wäre,weil ich ihr das nie ausdrücklich gesagt hatte. Dann verfiel ich auf die Idee, dass sie unsere neue Nummer nicht mehr kannte und auch nicht herausfinden konnte. Aber jedes Mal, wenn ich meine Mutter darauf ansprach, schüttelte sie bloß seufzend den Kopf. »Sie lebt ihr eigenes Leben, sie braucht uns nicht mehr«, antwortete sie und verwuschelte mir dabei die Haare. »Jetzt gibt es nur noch uns beide, mein Schatz, nur noch dich und mich.«
Im Nachhinein betrachtet kommt es mir so vor, als hätte es eigentlich schwieriger sein müssen, jemanden aus den Augen zu verlieren oder zuzulassen, dass jemand einen aus den Augen verlor. Vor allem, da dieser Jemand immer noch im selben Bundesstaat lebte und bloß ein paar Ortschaften weiter. Es wäre ein Leichtes gewesen, zur Uni rüberzufahren, ihr Studentenheim zu finden, an ihre Zimmertür zu klopfen und zu sagen: »Hallo, du hast Besuch.« Doch je deutlicher sich abzeichnete, dass meine Schwester nichts mehr mit mir und meiner Mutter zu tun haben wollte, umso einleuchtender erschien es, dass auch wir sie von uns abstreiften und ebenfalls auf Distanz zu ihr gingen. Wobei das nie offiziell oder ausdrücklich beschlossen wurde, genauso wenig wie damals, als meine Schwester und ich uns verbündet hatten. Es ergab sich einfach.
So überraschend oder erschreckend war diese Entwicklung außerdem ohnehin nicht. Meine Schwester hatte den Ausbruch gewagt, es über die Mauer geschafft und war entkommen. Was wir beide damals wollten. Deshalb begriff ich sehr gut, warum sie nicht zurückkommen wollte, nicht für einen Tag, nicht einmal für eine Stunde. Und ich hatte auch vollstes
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