Abschaffel
und Worte rasch und unwiederbringlich verlor. Wenn ihm jetzt, in diesem Augenblick, jemand begegnet wäre, den er kannte, etwa Baierl, wäre er in der Lage gewesen, ihm von seinen Zuständen mit den Worten und Sätzen zu erzählen, so wie auch Baierl ihm von seinen Zuständen berichtet hatte. Aber es ist eine bestimmte Verfassung notwendig, damit man sich traut, so etwas zu erzählen. Schon wenig später konnte Abschaffel nichts mehr darüber sagen, zu keinem Menschen, im Gegenteil, er mußte darauf achten, daß ihm niemand begegnete, weil ihm die Scham den Mund trockengelegt hatte und Abschaffel nur noch hoffte, unerklärt weiterzukommen.
Dies wurde ihm so schmerzhaft bewußt, daß er meinte, sich ausruhen zu müssen; er suchte nach einer Bank oder einer Wiese, auf der er sich niederlassen wollte, aber er befand sich mitten in der Stadt, und es gab keine Bank und keine Wiese. Er hatte nur seinen Kopf, und es war nicht ungewöhnlich, daß in seinem Kopf nun der Einfall auftauchte, nicht mehr hier sein zu wollen. Er wollte ganz und gar verschwinden für mindestens ein halbes Jahr; vielleicht nach Amerika, vielleicht in die Türkei. Alles, was er kannte, wollte er anders sehen. Und er wollte es betrachten, ohne selbst ein Wort sagen zu müssen. Abschaffel stellte sich vor, ein sehr guter Freund führe mit ihm in seinem Auto durch das fremde Land. Der Freund würde alles, was nur durch die Äußerung von Worten zu erlangen war, für ihn erledigen, und der Freund sei nicht böse und nicht beleidigt, wenn Abschaffel auch mit ihm kein Wort wechselte. Es müßte schön und erholsam sein, dachte Abschaffel, alles zu sehen und alles zu kriegen ohne den Zwang, es durch die Äußerung von Worten der Außenwelt abbetteln zu müssen.
Bevor er sich in Wunschwünschen verlor, redete er plötzlich energisch auf sich ein und erinnerte sich daran, daß er, bevor die Geschäfte schlossen, seine Wäsche abholen wollte. Das dicke blonde Ehepaar, dem die Wäscherei an der Ecke gehörte, war vor drei Wochen überraschend in Urlaub gefahren, inzwischen aber zurückgekehrt. Die drei Wochen über war Abschaffel mehrfach an der Wäscherei vorbeigelaufen und hatte sich immer wieder von neuem den Tag gemerkt, den das blonde Ehepaar als den Tag seiner Rückkehr auf einem handgemalten Schild angegeben hatte. Er hatte sich sogar ein Spiel daraus gemacht, die Tage zu zählen, die zur Wiedereröffnung der Wäscherei noch fehlten. Das Spiel erinnerte ihn an das Verhalten von Kindern, die Tage und Nächte zählten, die bis zu ihren Geburtstagen oder bis Weihnachten fehlten. Er schämte sich, je länger er die Tage bis zur Wiedereröffnung der Wäscherei zählte, weil er sich auf den Empfang der frischen Wäsche inzwischen fast so freute wie ein Kind auf seinen Geburtstag. Es bediente ihn die blonde Frau, und Abschaffel fiel auf, wie schwer es ihr fiel, nichts dabei zu reden, während sie ihm den mit einem durchsichtigen Plastiküberzug eingewickelten Wäschebeutel über die Theke reichte. Sie hielt sich an Abschaffels Verhalten, der schweigend den Laden betreten und ihr schweigend den Einlöseabschnitt hingehalten hatte. Er bezahlte rasch und verließ eilig die Wäscherei. Schon wieder schämte er sich, weil er so schnell ging und sich so unverständlich freute über das bevorstehende Auspacken des Wäschebeutels. Mein Gott, dachte er mehrfach, aber das Freuen blieb.
Im Treppenhaus öffnete Frau Kaiser, die einen Stock tiefer wohnte, die Wohnungstür, als Abschaffel eben daran vorbeigehen wollte. Guten Tag, Herr Abschaffel, sagte sie, und er erwiderte den Gruß undeutlich. Ich wollte Sie etwas fragen, sagte Frau Kaiser, haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit? Dabei trat sie zwei Schritte zurück in ihre Wohnung, und Abschaffel glaubte, keine andere Wahl mehr zu haben, als ihr zu folgen. Die Frau ging vor ihm her in das Wohnzimmer; sie verscheuchte ihre beiden Katzen, die Abschaffel um die Beine strichen. Abschaffel war dankbar, daß Frau Kaiser die Katzen verscheucht hatte; als sie sich mit hochgebeugtem Körper an seine Beine gedrückt hatten, hatte er mit dem Gefühl zurechtkommen müssen, es sei ihm etwas im Hoseninneren nach unten gefallen, das er niemals mehr entfernen könne. Nehmen Sie bitte Platz, sagte Frau Kaiser, und setzte sich selbst in einen Sessel. Die beiden Katzen legten sich in den Schoß von Frau Kaiser. Abschaffel legte sich das Wäschepaket auf die Knie und seine Arme darüber. Mein Mann und ich, wir verreisen über das
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