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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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drehte den liegenden Kopf in diese und in jene Richtung, mal in eine hellere, mal in eine schattigere Zimmerpartie, und schon bei dieser Beschäftigung hätte er bemerken müssen, daß dieser Abend ihn nicht weit brachte. Bald fühlte er einen schlechten Geschmack im Mund; der schlechte Geschmack war nicht ungewöhnlich, er gehörte zu den bekannten Erscheinungen des Liegens, Halbschlafens und Ausruhens. Er hätte nur aufstehen und ein halbes Glas Wasser trinken müssen, und er hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich schlecht zu fühlen. Aber er war liegengeblieben und schmeckte den schlechten Geschmack und sagte sich mehrfach: Was für ein schlechter Geschmack. Dabei betrachtete er wieder das Licht in seinem Zimmer, das von der kleinen Lampe ausging, und langsam kam er zu einer schlechten Meinung über das Licht in seinem Zimmer. Das hätte ihn wundern müssen. Einst hatte er die Lampe mit für ihn ungewöhnlichem Bedacht angeschafft, weil er sich von ihr eine gemütvolle, warme Zimmerbeleuchtung versprochen hatte. Und tatsächlich hatte er sich nicht geirrt; das Licht machte das Zimmer am Abend schön. Dennoch empfand er das Licht nun zunehmend ärmlich, ja elend. Mein Gott, diese Lampe! dachte er mehrfach nacheinander, und es störte ihn nicht die inhaltsleere Sinnlosigkeit dieses Gedankens, der gar kein Gedanke war, sondern nur ein nicht ausgesprochener Ausruf, mit dem niemand, noch nicht einmal er selber, etwas anfangen konnte.
    Er ließ es zu, daß seine Langeweile sich langsam ausdehnte. Abschaffel sah an seinem liegenden Körper entlang und betrachtete mit einer Langmut, die ihn kränkte, die Strümpfe an seinen Füßen. Er drehte sich um auf den Bauch, und sein rechter Arm rutschte vom Bett herunter; der Kopf lag auf der linken Gesichtshälfte. Aha, der Staub! dachte er, als er kleine Staubwölkchen da und dort liegen sah. Wieder wurde er nicht unruhig über den niedrigen Wert dieser Feststellung. Abschaffel hätte nun aufstehen müssen; er hätte sich rasieren können; er hätte sich drei Eier braten können, denn Hunger hätte er ebenfalls haben können. Er hätte wenigstens die Balkontür öffnen und einen Schwarm von Nachtfaltern hereinfliegen lassen können, die er dann enttäuscht hätte, indem er das Licht in seinem Zimmer plötzlich ausgeschaltet hätte. Er tat nichts davon; er blieb liegen und suchte nach Tätigkeiten, die sich liegend ausführen ließen. Er sah auf die beiden Streichholzschachteln am Boden neben dem Aschenbecher und der Zigarettenschachtel. Mit dem kleinen Finger drückte er den Schubteil aus beiden Schachteln heraus und stellte fest, daß sich in der einen Schachtel erheblich weniger Streichhölzer befanden als in der anderen. Er sah lange auf die beiden halb geöffneten Schachteln, und es blieb nicht aus, daß er gegenüber den Schachteln Gefühle bekam. Plötzlich konnte er die Schachtel, in der sich nur wenige Streichhölzer befanden, nicht mehr leiden. Er ging daran, die Streichhölzer aus dieser Schachtel herauszunehmen und sie in die andere Schachtel hineinzustecken und dann beide Schachteln wieder zu schließen. Und weil er dies alles mit den Fingern einer Hand vollbracht hatte, kam er sich raffiniert vor. Er drehte sich zurück auf den Rücken und dachte, daß er nichts mehr könnte. Er sah auf die Uhr und dachte: Die Zeit hat keine Schuld. Das war ein merkwürdig übertriebener Satz, den Abschaffel deshalb nicht gelten lassen wollte. Da läutete das Telefon, und es war ihm sofort peinlich. Jetzt reden! Am Telefon würde sich bestimmt eine Frauengeschichte melden, von der er auf Grund seiner gefühlsmäßigen Unentschiedenheit noch immer und zu jeder Zeit belangt werden konnte. Alles hätte ein Ende nehmen können, wenn er ins Telefon gesagt hätte: Es ist gut, in einer halben Stunde bin ich da. Aber das tat er gerade nicht. Natürlich war am Telefon eine Frauengeschichte, und Abschaffel sprach eine ganze Anzahl undeutlicher, verwirrter Sätze in den Hörer, an deren Ende weder ein Ja noch ein Nein stand. Dennoch war es die Aufgabe der Frau am Telefon gewesen, seinen Sätzen ein Nein zu entnehmen und zu erraten, daß er müde und lustlos sei und nicht könne und alles und überhaupt. Er legte sich gleich wieder auf das Bett. Inzwischen war es draußen vollständig dunkel geworden, dazu auch noch still. Er drehte den Kopf zur Seite in Richtung Balkontür, und er stellte sich vor, daß er gerade so den Kopf zur Seite drehen werde, wenn er eines Tages ganz alt sein würde

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