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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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und sah rundliche Stacheldrahtballen über den Luftschächten im Ladehof. Es war entsetzlich. Heute konnte er hinsehen, wohin er nur wollte, überall wurde er geschwächt und gedemütigt. Er selbst war es gewesen, der vorlaut den Stadtstreicher verraten hatte, aber das hatte er fast schon wieder vergessen. Statt dessen hielt sich sein Schuldgefühl an den Stacheldrahtballen fest, und für die war eindeutig Mörst verantwortlich. Wie war es möglich, daß ein und dieselbe Person, dieser stinkende Betriebsrat Mörst, einerseits einen todkranken Angestellten vor dem Arbeitsgericht vertrat, andererseits aber einem Penner den Schlafplatz mit Stacheldraht verspannte? Abschaffel überlegte, ob Mörst Ajax bewußt positiv beeindrucken wollte, indem er Stacheldraht über die Luken spannen ließ, damit er in der Sache Gersthoff um so besser gegen ihn kämpfen konnte. Vielleicht war es so, vielleicht nicht. Vielleicht waren die beiden Ereignisse auch nur zufällig zeitlich miteinander verbunden. Mörst war ein guter Betriebsrat, aber er war genauso eng und beschränkt wie alle anderen. Er half Personen nur dann, wenn sie, wie Gersthoff, auf ordentliche Weise in Not geraten waren. Wer aber unordentlich in Not war, wie der Penner im Ladehof, rief sofort Mörsts Argwohn hervor. Mörst hatte feste Vorstellungen über das Elend. Nur wer eine langjährige Praxis in der Ordentlichkeit hinter sich hatte und dann scheiterte, war auf sanktionierte Weise ins Unglück geraten. Gegen alle anderen Unglücklichen ging Mörst entschieden vor; er verfolgte sie, bis sie außer Sichtweite waren.
    Abschaffel tippte auf einen Zettel den Text eines Fernschreibens. Er tippte mit zwei Fingern und wurde deswegen wieder von Fräulein Schindler belächelt. Wieder sagte er, was er schon so oft gesagt hatte: Ich tippe so wenig, daß ich mir das erlauben kann. Fräulein Schindler lachte und sagte: Sie wollen bloß verhindern, daß Ajax eine Tippse aus Ihnen macht. Sie lachte noch einmal, und einige andere lachten mit. Abschaffel wunderte sich über diese fremdartige Äußerung. Vielleicht hatte er schon den Ruf eines schwächlichen, weibischen Angestellten, und er wußte gar nichts davon. Aber er kam nicht dazu, diesen Dingen nachzusinnen, weil soeben ein Lehrling Fräulein Schindler eine Büroklammer in den Ausschnitt geworfen hatte. Es war die erste Büroklammer in diesem Sommer, die in einen Ausschnitt geworfen wurde. Jetzt geht das wieder los, seufzte Abschaffel innerlich auf. Er sah Fräulein Schindler zu, wie sie mit der rechten Hand in ihrer Bluse umherstreifte. Das Werfen mit Büroklammern war ein erotisches Spiel unter ganz jungen Angestellten und Lehrlingen. Fräulein Schindler war zwar kein Lehrling mehr, und sie bemühte sich auch, nicht zu den Lehrlingen gezählt zu werden. Die Lehrlinge jedoch behandelten sie so, als gehörte sie zu ihnen. Sie fand die Büroklammer und warf sie auf den Lehrling zurück, verfehlte ihn allerdings weit. Die Schar der blassen und verpickelten Lehrlinge brach darüber in ein dröhnendes Lachen aus. Das Lachen war für sie die einzige Art, mit Fräulein Schindler einen intimeren Kontakt zu haben. Ihre Erscheinung entsprach den Vorstellungen der Begierde, und es gab sicher keinen Lehrling, dessen Phantasie sich nicht wenigstens einmal täglich mit ihr beschäftigt hätte. Fräulein Schindler gab zwar immer wieder einzelne Bemerkungen über ihren neuen Freund von sich, und ihr Gehabe verriet ihre Überzeugung, daß nicht ein einziger Angestellter von Ajax an die Qualitäten ihres neuen Freundes heranreichte. Die Lehrlinge ihrerseits hatten die tiefe Überzeugung, daß sich alle jüngeren Leute ihre Freunde und Freundinnen in der Firma suchen sollten. Wer, wie Fräulein Schindler, sich außerhalb der Firma versorgte, diffamierte die erotische Repräsentanz von fünfzehn jungen Leuten. Fräulein Schindler straffte ihre Bluse. Sie war selbstbewußt und entschlossen, sich erotisch nicht an die Firma binden zu lassen.
    Seit Stunden war Abschaffel wieder den Nichtigkeiten des Büros ausgesetzt. Die offene Weite des Großraumbüros versetzte alle Angestellten in einen allgemeinen Zusammenhang. Alle kleinen Nichtigkeiten sammelten sich zu einem großen Nichts, an dem alle teilhatten. Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit, seine eigenen Nichtigkeiten zu bedenken und nach Möglichkeit auszuräumen, weil er gezwungen war, am allgemeinen Strom der Ereignisse teilzunehmen. Die einzig mögliche Absonderung bestand darin, die

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